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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur

teil, die dramatische Wucht der einzelnen Szenen -- ich greife z. B. den Austritt
zwischen Metzler und der Gräfin von Helfenstein heraus, es ist nur ein Beispiel
für viele -- ist ganz außerordentlich, womit nicht geleugnet werden soll, daß die
drei ersten Akte als Ganzes mehr episch als dramatisch gedacht sind. Könnten
wir das ganze Stück ohne Pause an uns vorüberziehen sehen, die Wirkung
würde mächtig sein; stark allerdings auch die Ansprüche, die an Anffassungskraft
und Nerven der Zuschauer gestellt würden -- die Aufführung dauerte trotz möglichst
kurzer Pausen beinahe fünf Stunden.

Der Versuch Devrients ist, wie gesagt, im wesentlichen gelungen; es scheint,
das Publikum kann Goethes Stück in seiner ersten, kraftvollsten, aber auch wildesten
und zerfahrensten Form Geschmack abgewinnen. Nur zwei Bedenken möchte ich
vorbringen. Erstens: daß das Fehmgericht bei geschlossener Bühne vor sich geht,
daß man also die Richter und den Kläger nur hört, nicht sieht, wirkte doch mehr
verblüffend als ergreifend. Und zweitens: der Auftritt zwischen dem Rächer und
Adelheid in dem Schlafgemach Adelheids ist zwar sehr ergreifend, aber doch wohl
für unser Publikum -- man möchte fast sagen leider -- zu gewagt. Es war
bezeichnend, daß sich darnach zwar starker Beifall, aber als Antwort darauf auch
recht bemerkliches Zischen hören ließ.

Die Ausstattung und die ganze Jnszenirung des Stückes verdient volle An¬
erkennung, einzelnes z. B. die Szene im Heilbronner Rathaus, die Bancrnszenen
und das Zigeunerlager waren geradezu musterhaft. Nur die Kcnupfszencn blieben
trotz aller jedenfalls darauf verwandten Mühe nicht frei von einer ans Komische
streifenden Wirkung; die mutigen Rosse wenigstens hätte man sparen können. Die
Darstellung war gleichfalls der königlichen Bühne würdig; daß nicht jede Rolle
gleich gut vertreten war, ist bei einem Stück, das eine solche Menge von Kräften
erfordert, selbstverständlich. Auf Einzelheiten will ich hier nicht eingehen, es kam
mir nur darauf an, sachlich über das Gelingen dieses jedenfalls interessanten Ver¬
suchs zu berichten, umso mehr, da ein großer Teil der kritischen Stimmen Berlins
L es nach meiner Meinung bedenklich an dieser Sachlichkeit hat fehlen lassen.




Litteratur
Geschichtsbetrachtungen von Julius von Pflugk-Harttung. Gotha, Fr. A. Perthes,
1890

Die in dieser 47 Seiten langen Schrift aneinandergereihten Gedankengruppcn
sind verschieden an Wert. Der Verfasser beginnt mit dem richtigen Satze, daß
kein Volk in solchem Maße zur Geschichtschreibung befähigt sei und solche Leistungen
darin auszuweisen habe wie das deutsche, und giebt zunächst einen vortrefflichen
Abriß der Geschichte der Geschichtschreibung von der Zeit der Staufer an. Unsre
Litteraturtenutnis reicht nicht hin, zu beurteile", ob die kurze Charakteristik bei


Litteratur

teil, die dramatische Wucht der einzelnen Szenen — ich greife z. B. den Austritt
zwischen Metzler und der Gräfin von Helfenstein heraus, es ist nur ein Beispiel
für viele — ist ganz außerordentlich, womit nicht geleugnet werden soll, daß die
drei ersten Akte als Ganzes mehr episch als dramatisch gedacht sind. Könnten
wir das ganze Stück ohne Pause an uns vorüberziehen sehen, die Wirkung
würde mächtig sein; stark allerdings auch die Ansprüche, die an Anffassungskraft
und Nerven der Zuschauer gestellt würden — die Aufführung dauerte trotz möglichst
kurzer Pausen beinahe fünf Stunden.

Der Versuch Devrients ist, wie gesagt, im wesentlichen gelungen; es scheint,
das Publikum kann Goethes Stück in seiner ersten, kraftvollsten, aber auch wildesten
und zerfahrensten Form Geschmack abgewinnen. Nur zwei Bedenken möchte ich
vorbringen. Erstens: daß das Fehmgericht bei geschlossener Bühne vor sich geht,
daß man also die Richter und den Kläger nur hört, nicht sieht, wirkte doch mehr
verblüffend als ergreifend. Und zweitens: der Auftritt zwischen dem Rächer und
Adelheid in dem Schlafgemach Adelheids ist zwar sehr ergreifend, aber doch wohl
für unser Publikum — man möchte fast sagen leider — zu gewagt. Es war
bezeichnend, daß sich darnach zwar starker Beifall, aber als Antwort darauf auch
recht bemerkliches Zischen hören ließ.

Die Ausstattung und die ganze Jnszenirung des Stückes verdient volle An¬
erkennung, einzelnes z. B. die Szene im Heilbronner Rathaus, die Bancrnszenen
und das Zigeunerlager waren geradezu musterhaft. Nur die Kcnupfszencn blieben
trotz aller jedenfalls darauf verwandten Mühe nicht frei von einer ans Komische
streifenden Wirkung; die mutigen Rosse wenigstens hätte man sparen können. Die
Darstellung war gleichfalls der königlichen Bühne würdig; daß nicht jede Rolle
gleich gut vertreten war, ist bei einem Stück, das eine solche Menge von Kräften
erfordert, selbstverständlich. Auf Einzelheiten will ich hier nicht eingehen, es kam
mir nur darauf an, sachlich über das Gelingen dieses jedenfalls interessanten Ver¬
suchs zu berichten, umso mehr, da ein großer Teil der kritischen Stimmen Berlins
L es nach meiner Meinung bedenklich an dieser Sachlichkeit hat fehlen lassen.




Litteratur
Geschichtsbetrachtungen von Julius von Pflugk-Harttung. Gotha, Fr. A. Perthes,
1890

Die in dieser 47 Seiten langen Schrift aneinandergereihten Gedankengruppcn
sind verschieden an Wert. Der Verfasser beginnt mit dem richtigen Satze, daß
kein Volk in solchem Maße zur Geschichtschreibung befähigt sei und solche Leistungen
darin auszuweisen habe wie das deutsche, und giebt zunächst einen vortrefflichen
Abriß der Geschichte der Geschichtschreibung von der Zeit der Staufer an. Unsre
Litteraturtenutnis reicht nicht hin, zu beurteile», ob die kurze Charakteristik bei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/98>, abgerufen am 27.04.2024.