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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

die dämonische Liebe zu den heimischen Goldgruben IM ihn festgehalten. Da läßt
ihn die Heimat selbst im Stich: die Gletscher wandern so weit ins Thal herab,
daß aller Goldbär unmöglich wird, und er geht in der vereisenden Gegend nnter.
?fers, c>no pactis? ist eine Mönchsgeschichte, das Motiv ist nicht nen, ist aber mit
kräftigen, stimmungsvollen Farben ausgeführt. Ebenso wertvoll find "Ruth" und
"Olivenholz," letzteres eine Anekdote von Michel Angelo, kurz, aber meisterhaft
erzählt. Schwach erschien uns die längste Erzählung des Buches: "Die Tochter
Fortunats."

Bei all dieser aufrichtigen Anerkennung der Begabung des jungen Wiener
Dichters, den schon der Ernst seiner Kunstübung vorteilhaft vor vielen Genossen
in und außerhalb Wiens auszeichnet, können wir doch nicht umhin, das schon bei
der Besprechung seines "Höferechts" geäußerte Bedenken zu wiederholen. David
zergliedert zu oft die Gemütszustande seiner Gestalten, anstatt sie darzustellen; das
schädigt stets die Plastik seiner Figuren. Wir wollen nicht bloß ihre Innerlichkeit
kennen lernen, sondern sie mit möglichst großer Anschaulichkeit in Bewegung vor
uns sehen. David begnügt sich mit einzelnen anschaulichen Szenen, anstatt in der
Anschauung zu verharren. Seine künstlerische Ausbildung muß also die Richtung
zur Darstellung des thatsächlichen Vorganges nehmen. Und sie wird ihm gelingen,
denn er ist wirklich ein echter Phantasiemensch, kein Verstandesdichter.


Klein-Wiener. Skizzen in Wiener Art und Mundart von Ed. Pötzl. Wien, Georg
Szclinski, 1891

Wir haben schon einmal den eigentümlichen Humor dieses Wiener Plauderers
und Satirikers (in einer Parallele mit seinem Nebenbuhler Chiavneei) charakterisirt.
In dieser neuen Sammlung ist Pötzl bestrebt, wie jener andre Humorist eine
typische Figur zu schaffen und sie zum Mittelpunkt einer größern Anzahl von
Skizzen zu machen. Wie Chiavaeei die Öbstlerin Frau Sopherl, so hat sich Pötzl
den Herrn von Nigerl geschaffen. Der ist wesentlich anders: nicht das Sprachrohr
des Humoristen, sondern sein vielgeliebter Wiener Philister, dem nichts über seine
Heimat geht, der sich nirgends so wohl wie beim Wiener Rindfleisch fühlt (diese
bescheidenere Speise hat die berühmten altwienerischeu "Backhähndl" in diesen
schlechten Zeiten abgelöst). Nigerl ist eine humoristische Figur, keine Maske, und
seine Abenteuer auf der Pariser Weltausstellung in der Reihe "Vom Stefnnsturm
zum Eiffelturm" lesen sich sehr ergötzlich. Von den andern Stücken verdienen die
"Wiener Lieder in Prosa" deswegen Erwähnung, weil sie Pötzls Kunst im feinen
Stimmungsbild zeigen; im Gegensatze nämlich zu der gewöhnlichen Beschränkung
der Lokalhumoristen auf den Dialekt, versteht sich Pötzl auch auf sein Hochdeutsch.
Das feinste Kapitelchen, ganz erfüllt von Wiener Luft, ist "Der °Doge von
Wien" -- das ist der Baumeister Schmidt, der das schöne Rathaus von Wien
geschaffen hat.







Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

die dämonische Liebe zu den heimischen Goldgruben IM ihn festgehalten. Da läßt
ihn die Heimat selbst im Stich: die Gletscher wandern so weit ins Thal herab,
daß aller Goldbär unmöglich wird, und er geht in der vereisenden Gegend nnter.
?fers, c>no pactis? ist eine Mönchsgeschichte, das Motiv ist nicht nen, ist aber mit
kräftigen, stimmungsvollen Farben ausgeführt. Ebenso wertvoll find „Ruth" und
„Olivenholz," letzteres eine Anekdote von Michel Angelo, kurz, aber meisterhaft
erzählt. Schwach erschien uns die längste Erzählung des Buches: „Die Tochter
Fortunats."

Bei all dieser aufrichtigen Anerkennung der Begabung des jungen Wiener
Dichters, den schon der Ernst seiner Kunstübung vorteilhaft vor vielen Genossen
in und außerhalb Wiens auszeichnet, können wir doch nicht umhin, das schon bei
der Besprechung seines „Höferechts" geäußerte Bedenken zu wiederholen. David
zergliedert zu oft die Gemütszustande seiner Gestalten, anstatt sie darzustellen; das
schädigt stets die Plastik seiner Figuren. Wir wollen nicht bloß ihre Innerlichkeit
kennen lernen, sondern sie mit möglichst großer Anschaulichkeit in Bewegung vor
uns sehen. David begnügt sich mit einzelnen anschaulichen Szenen, anstatt in der
Anschauung zu verharren. Seine künstlerische Ausbildung muß also die Richtung
zur Darstellung des thatsächlichen Vorganges nehmen. Und sie wird ihm gelingen,
denn er ist wirklich ein echter Phantasiemensch, kein Verstandesdichter.


Klein-Wiener. Skizzen in Wiener Art und Mundart von Ed. Pötzl. Wien, Georg
Szclinski, 1891

Wir haben schon einmal den eigentümlichen Humor dieses Wiener Plauderers
und Satirikers (in einer Parallele mit seinem Nebenbuhler Chiavneei) charakterisirt.
In dieser neuen Sammlung ist Pötzl bestrebt, wie jener andre Humorist eine
typische Figur zu schaffen und sie zum Mittelpunkt einer größern Anzahl von
Skizzen zu machen. Wie Chiavaeei die Öbstlerin Frau Sopherl, so hat sich Pötzl
den Herrn von Nigerl geschaffen. Der ist wesentlich anders: nicht das Sprachrohr
des Humoristen, sondern sein vielgeliebter Wiener Philister, dem nichts über seine
Heimat geht, der sich nirgends so wohl wie beim Wiener Rindfleisch fühlt (diese
bescheidenere Speise hat die berühmten altwienerischeu „Backhähndl" in diesen
schlechten Zeiten abgelöst). Nigerl ist eine humoristische Figur, keine Maske, und
seine Abenteuer auf der Pariser Weltausstellung in der Reihe „Vom Stefnnsturm
zum Eiffelturm" lesen sich sehr ergötzlich. Von den andern Stücken verdienen die
„Wiener Lieder in Prosa" deswegen Erwähnung, weil sie Pötzls Kunst im feinen
Stimmungsbild zeigen; im Gegensatze nämlich zu der gewöhnlichen Beschränkung
der Lokalhumoristen auf den Dialekt, versteht sich Pötzl auch auf sein Hochdeutsch.
Das feinste Kapitelchen, ganz erfüllt von Wiener Luft, ist „Der °Doge von
Wien" — das ist der Baumeister Schmidt, der das schöne Rathaus von Wien
geschaffen hat.







Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/248>, abgerufen am 06.05.2024.