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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die wirtschaftlichen Grundlagen der russischen
Machtstellung

le Tugend der Dankbarkeit gehört im politischen Leben zu den
allerseltensten Erscheinungen. Von Mensch zu Mensch wird sie
scheinbar oft beobachtet, aber da geht sie auf alle andern Beweg¬
grunde zurück, nur nicht auf politische, von Volk zu Volk kommt
sie gar uicht vor. Es läßt sich aber auch dem rücksichtslosen
nationalen Egoismus eine gewisse innere Berechtigung nicht abstreiten, im ent¬
scheidenden Augenblick geben die eignen Lebensbedingungen den Ausschlag, nicht
die Rücksicht auf den Freund, an dessen Seite man eben noch gestanden hat.

Das mag sehr nüchtern klingen und von dem Standpunkte aus, der
die Nationen als sittliche Persönlichkeiten faßt, auch unsittlich sein, es ist
aber geschichtlich, und es ist wahr. Die sittliche Folgerung, in der das Ver¬
söhnende liegt, das uns über jenen Zwiespalt hinweghilft, ist die Forderung,
daß jede Volksgemeinschaft vor allem auf sich selbst baue. Ja wir meinen,
daß die Summe aller politischen Weisheit in dem Satze liege: Verlaß dich
auf niemand als auf dich selbst, und wenn du Freunde hast, baue nur
insoweit auf sie, daß du auch durch ihren Abfall nicht wehrlos dastehst.

In unsern Geschichtswerken wird das Verhalten Alexanders I. bei
Tilsit scharf verurteilt, von den Russen dagegen wird dem Zaren vorgeworfen,
daß er damals den Augenblick nicht genutzt habe, um im Verein mit Napoleon
auf Kosten Preußens die Südküste der Ostsee zu gewinnen: Königsberg,
Danzig und so fort. Die Klage über Österreichs Undankbarkeit während des
Krimkrieges bietet ein andres Beispiel, und über Undank hat der dritte Napoleon
sich in den für ihn so bösen Tagen von 1870 gegen Italien, gegen Österreich
und die andern beklagt, die unthätig zusahen, wie der Sturmlauf Deutschlands


Grenzboten I 1891 31


Die wirtschaftlichen Grundlagen der russischen
Machtstellung

le Tugend der Dankbarkeit gehört im politischen Leben zu den
allerseltensten Erscheinungen. Von Mensch zu Mensch wird sie
scheinbar oft beobachtet, aber da geht sie auf alle andern Beweg¬
grunde zurück, nur nicht auf politische, von Volk zu Volk kommt
sie gar uicht vor. Es läßt sich aber auch dem rücksichtslosen
nationalen Egoismus eine gewisse innere Berechtigung nicht abstreiten, im ent¬
scheidenden Augenblick geben die eignen Lebensbedingungen den Ausschlag, nicht
die Rücksicht auf den Freund, an dessen Seite man eben noch gestanden hat.

Das mag sehr nüchtern klingen und von dem Standpunkte aus, der
die Nationen als sittliche Persönlichkeiten faßt, auch unsittlich sein, es ist
aber geschichtlich, und es ist wahr. Die sittliche Folgerung, in der das Ver¬
söhnende liegt, das uns über jenen Zwiespalt hinweghilft, ist die Forderung,
daß jede Volksgemeinschaft vor allem auf sich selbst baue. Ja wir meinen,
daß die Summe aller politischen Weisheit in dem Satze liege: Verlaß dich
auf niemand als auf dich selbst, und wenn du Freunde hast, baue nur
insoweit auf sie, daß du auch durch ihren Abfall nicht wehrlos dastehst.

In unsern Geschichtswerken wird das Verhalten Alexanders I. bei
Tilsit scharf verurteilt, von den Russen dagegen wird dem Zaren vorgeworfen,
daß er damals den Augenblick nicht genutzt habe, um im Verein mit Napoleon
auf Kosten Preußens die Südküste der Ostsee zu gewinnen: Königsberg,
Danzig und so fort. Die Klage über Österreichs Undankbarkeit während des
Krimkrieges bietet ein andres Beispiel, und über Undank hat der dritte Napoleon
sich in den für ihn so bösen Tagen von 1870 gegen Italien, gegen Österreich
und die andern beklagt, die unthätig zusahen, wie der Sturmlauf Deutschlands


Grenzboten I 1891 31
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[0249] [Abbildung] Die wirtschaftlichen Grundlagen der russischen Machtstellung le Tugend der Dankbarkeit gehört im politischen Leben zu den allerseltensten Erscheinungen. Von Mensch zu Mensch wird sie scheinbar oft beobachtet, aber da geht sie auf alle andern Beweg¬ grunde zurück, nur nicht auf politische, von Volk zu Volk kommt sie gar uicht vor. Es läßt sich aber auch dem rücksichtslosen nationalen Egoismus eine gewisse innere Berechtigung nicht abstreiten, im ent¬ scheidenden Augenblick geben die eignen Lebensbedingungen den Ausschlag, nicht die Rücksicht auf den Freund, an dessen Seite man eben noch gestanden hat. Das mag sehr nüchtern klingen und von dem Standpunkte aus, der die Nationen als sittliche Persönlichkeiten faßt, auch unsittlich sein, es ist aber geschichtlich, und es ist wahr. Die sittliche Folgerung, in der das Ver¬ söhnende liegt, das uns über jenen Zwiespalt hinweghilft, ist die Forderung, daß jede Volksgemeinschaft vor allem auf sich selbst baue. Ja wir meinen, daß die Summe aller politischen Weisheit in dem Satze liege: Verlaß dich auf niemand als auf dich selbst, und wenn du Freunde hast, baue nur insoweit auf sie, daß du auch durch ihren Abfall nicht wehrlos dastehst. In unsern Geschichtswerken wird das Verhalten Alexanders I. bei Tilsit scharf verurteilt, von den Russen dagegen wird dem Zaren vorgeworfen, daß er damals den Augenblick nicht genutzt habe, um im Verein mit Napoleon auf Kosten Preußens die Südküste der Ostsee zu gewinnen: Königsberg, Danzig und so fort. Die Klage über Österreichs Undankbarkeit während des Krimkrieges bietet ein andres Beispiel, und über Undank hat der dritte Napoleon sich in den für ihn so bösen Tagen von 1870 gegen Italien, gegen Österreich und die andern beklagt, die unthätig zusahen, wie der Sturmlauf Deutschlands Grenzboten I 1891 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/249>, abgerufen am 06.05.2024.