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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Schuldig I

und Zellengruppeu (Familien oder Stämmen) aufbaut, wie sich zwischen dem
Knochengerüste der Staatseinrichtungen das Gewebe der Familiengruppen aus¬
breitet, wie das Gefäßsystem den nährenden Lebenssaft in diesem Körper kreisen
läßt und allen Teilen zuführt, wie endlich das Nervensystem der Behörden,
der Lehranstalten, der Presse das Ganze belebt und seine Handlungen leitet,
und wie dann die Gliederung dieses Körpers immer reicher, sein Bau immer
fester und zugleich seiner wird, sodaß er in einfachen Kulturzuständen einem
formlosen Weichtiere, in höheren einem wohlgebildeten Säugetiere oder Men¬
schen gleicht. Gewiß gewährt um die Betrachtung dieser kunstvollen und
verwickelten Gestaltuugeu dem, der sie zu betrachten die Zeit und die Fähig¬
keit hat, hohen Genuß; auch sind sie unter den heutigen Umständen keinem
entbehrlich; wer könnte und möchte heute noch ohne Post und Eisenbahn leben?
Aber sehen wir dann wieder auf den Hauptzweck der Welt, auf das Befinden
des Einzelnen, so wird durch vermehrte Künstlichkeit der Gesellschaft, der er
angehört, weder seine Zufriedenheit noch sein sittlicher Wert erhöht, und kann
er dem Getriebe der Riesenmaschinc, die ihn einerseits zwar stützt und schützt,
anderseits aber ihn täglich zerrt und zwickt, stößt und drückt, entfliehen, so
fühlt er sich in einfacheren Verhältnissen, sei es in Ostafrika oder in einem
Winkel Südbrasiliens, ungemein wohl. ,,Wie viele Völker ans Erden -- sagt
Herder -- wissen von keinem Staate, die dennoch glücklicher sind, als mancher
gekreuzigte Staatswvhlthäter." Die fortschreitende Vervollkommnung der Ge¬
sellschaftskörper ist also unbestreitbar, ihr Wert für das Menschengeschlecht
aber höchst zweifelhaft.

Aber besteht nicht vielleicht der Fortschritt in einer zunehmenden Ver-
geistigung des Menschen?




schuldig!

ichter wissen zu danken. Richard Voß hat mit seinen rhe¬
torisch-düstern, geistvoll-gequälten, hochbegabt-unwahren Stücken
im Deutschen Volkstheater zu Wien eine Heimstätte gefunden,
wie nirgends sonst; die Erfolge der "Eva" und der "Alexandra"
habe" sein krankes Herz, wenn auch nicht gesund gemacht, so
doch mit frischer Zuversicht erfüllt. Dafür hat er der jungen, im Glücke der
Volksgunst sich formenden Bühne dadurch gedankt, daß er ihr sein neuestes
Stück: Schuldig! Vvlksdrama in drei Akten zur allerersten Aufführung über-


Schuldig I

und Zellengruppeu (Familien oder Stämmen) aufbaut, wie sich zwischen dem
Knochengerüste der Staatseinrichtungen das Gewebe der Familiengruppen aus¬
breitet, wie das Gefäßsystem den nährenden Lebenssaft in diesem Körper kreisen
läßt und allen Teilen zuführt, wie endlich das Nervensystem der Behörden,
der Lehranstalten, der Presse das Ganze belebt und seine Handlungen leitet,
und wie dann die Gliederung dieses Körpers immer reicher, sein Bau immer
fester und zugleich seiner wird, sodaß er in einfachen Kulturzuständen einem
formlosen Weichtiere, in höheren einem wohlgebildeten Säugetiere oder Men¬
schen gleicht. Gewiß gewährt um die Betrachtung dieser kunstvollen und
verwickelten Gestaltuugeu dem, der sie zu betrachten die Zeit und die Fähig¬
keit hat, hohen Genuß; auch sind sie unter den heutigen Umständen keinem
entbehrlich; wer könnte und möchte heute noch ohne Post und Eisenbahn leben?
Aber sehen wir dann wieder auf den Hauptzweck der Welt, auf das Befinden
des Einzelnen, so wird durch vermehrte Künstlichkeit der Gesellschaft, der er
angehört, weder seine Zufriedenheit noch sein sittlicher Wert erhöht, und kann
er dem Getriebe der Riesenmaschinc, die ihn einerseits zwar stützt und schützt,
anderseits aber ihn täglich zerrt und zwickt, stößt und drückt, entfliehen, so
fühlt er sich in einfacheren Verhältnissen, sei es in Ostafrika oder in einem
Winkel Südbrasiliens, ungemein wohl. ,,Wie viele Völker ans Erden — sagt
Herder — wissen von keinem Staate, die dennoch glücklicher sind, als mancher
gekreuzigte Staatswvhlthäter." Die fortschreitende Vervollkommnung der Ge¬
sellschaftskörper ist also unbestreitbar, ihr Wert für das Menschengeschlecht
aber höchst zweifelhaft.

Aber besteht nicht vielleicht der Fortschritt in einer zunehmenden Ver-
geistigung des Menschen?




schuldig!

ichter wissen zu danken. Richard Voß hat mit seinen rhe¬
torisch-düstern, geistvoll-gequälten, hochbegabt-unwahren Stücken
im Deutschen Volkstheater zu Wien eine Heimstätte gefunden,
wie nirgends sonst; die Erfolge der „Eva" und der „Alexandra"
habe» sein krankes Herz, wenn auch nicht gesund gemacht, so
doch mit frischer Zuversicht erfüllt. Dafür hat er der jungen, im Glücke der
Volksgunst sich formenden Bühne dadurch gedankt, daß er ihr sein neuestes
Stück: Schuldig! Vvlksdrama in drei Akten zur allerersten Aufführung über-


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[0512] Schuldig I und Zellengruppeu (Familien oder Stämmen) aufbaut, wie sich zwischen dem Knochengerüste der Staatseinrichtungen das Gewebe der Familiengruppen aus¬ breitet, wie das Gefäßsystem den nährenden Lebenssaft in diesem Körper kreisen läßt und allen Teilen zuführt, wie endlich das Nervensystem der Behörden, der Lehranstalten, der Presse das Ganze belebt und seine Handlungen leitet, und wie dann die Gliederung dieses Körpers immer reicher, sein Bau immer fester und zugleich seiner wird, sodaß er in einfachen Kulturzuständen einem formlosen Weichtiere, in höheren einem wohlgebildeten Säugetiere oder Men¬ schen gleicht. Gewiß gewährt um die Betrachtung dieser kunstvollen und verwickelten Gestaltuugeu dem, der sie zu betrachten die Zeit und die Fähig¬ keit hat, hohen Genuß; auch sind sie unter den heutigen Umständen keinem entbehrlich; wer könnte und möchte heute noch ohne Post und Eisenbahn leben? Aber sehen wir dann wieder auf den Hauptzweck der Welt, auf das Befinden des Einzelnen, so wird durch vermehrte Künstlichkeit der Gesellschaft, der er angehört, weder seine Zufriedenheit noch sein sittlicher Wert erhöht, und kann er dem Getriebe der Riesenmaschinc, die ihn einerseits zwar stützt und schützt, anderseits aber ihn täglich zerrt und zwickt, stößt und drückt, entfliehen, so fühlt er sich in einfacheren Verhältnissen, sei es in Ostafrika oder in einem Winkel Südbrasiliens, ungemein wohl. ,,Wie viele Völker ans Erden — sagt Herder — wissen von keinem Staate, die dennoch glücklicher sind, als mancher gekreuzigte Staatswvhlthäter." Die fortschreitende Vervollkommnung der Ge¬ sellschaftskörper ist also unbestreitbar, ihr Wert für das Menschengeschlecht aber höchst zweifelhaft. Aber besteht nicht vielleicht der Fortschritt in einer zunehmenden Ver- geistigung des Menschen? schuldig! ichter wissen zu danken. Richard Voß hat mit seinen rhe¬ torisch-düstern, geistvoll-gequälten, hochbegabt-unwahren Stücken im Deutschen Volkstheater zu Wien eine Heimstätte gefunden, wie nirgends sonst; die Erfolge der „Eva" und der „Alexandra" habe» sein krankes Herz, wenn auch nicht gesund gemacht, so doch mit frischer Zuversicht erfüllt. Dafür hat er der jungen, im Glücke der Volksgunst sich formenden Bühne dadurch gedankt, daß er ihr sein neuestes Stück: Schuldig! Vvlksdrama in drei Akten zur allerersten Aufführung über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/512>, abgerufen am 06.05.2024.