Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Thermidor

haben alle -- der Himmel weiß, infolge welches kläglichen Unterrichts, den
sie genossen haben --, jenes Papiergespenst erwischt, das in unsern Gram¬
matiker als Konjunktiv des Präsens figurirt, aber keiner ist. Er hat el"
tragisches Los, unser armer Konjunktiv!

(hö-orisrlmnn folgt)




Thermidor

M"Das Schauspiel des raffiiiirtesten unter den französischen Bühueu-
schriftstellcrn der Gegenwart, das acht Tage lang das Staats-
schiff der französischen Republik dank der Unentschlossenheit ihrer
gegeinvärtigen Machthaber wie ein hilfloses Wrack auf stürmisch
erregte" Welle" hin- und hergeschleudert und beinahe zum
Scheitern gebracht hatte, ist am Z0. März auch im Berliner Lessingtheater
zum erstenmal aufgeführt worden, obwohl Sardon diese Aufführung nach den
lärmenden Vorgänge" in Paris aus übertriebenen patriotischen Zartgefühl aus¬
drücklich untersagt hatte. Wen" in Paris schon ein im großen und ganzen
ziemlich wahrheitsgetreues Stimmungsbild ans den Tagen des Thermidor 1794
die Köpfe, die für und wider schrieen, zu den tollsten Ausschreitungen erhitzt
hatte, trotzdem daß das Schauspiel nicht über zwei Aufführungen hinnus-
gekomme" war -- ochse" mußte der feinfühlige Franzose, der bisher nur
"ach dem Grundsatze?<Zvumg. non vive gehandelt hatte, erst von den Berlinern
gewärtig sein, die doch sicherlich keine Gelegenheit vorübergehen lasse" würde",
jede Anspielung, die etwa uns Persönlichkeiten und Zustände der gegenwärtigen
Republik zu deuten wäre, mit demonstrativen Beifall zu begrüßen! Aber der
Protest Sardous, der den übliche" Tribut, den deutsche Theaterdirektoren ohne
Kenntnis der wie die Katze im Sack gekauften Stücke zu zahlen Pflegen, bereits
vor Jahr und Tag eingestrichen hatte, blieb erfolglos. Der Direktor des
Lessingtheaters bestand auf .seinem Schein wie Shvlock, und er lief dabei uicht
einmal Gefahr, sich in das eigne Fleisch zu schneide", weil er eines Publikums
sicher sein konnte, das er drei Jahre lang durch Vorführung der zügellosesten
französischen und deutscheu Sitteudramcn zu einer Duldsamkeit herangezogen
hat, die beinahe auf Entäußerung jedes eignen Urteils und jeder nationalen
Regung hinausläuft.

Es handelt sich dabei meist nur um das so ziemlich feststehende Publi¬
kum einer ersten Vorstellung, das, wie die Verhältnisse in Berlin nun einmal


Thermidor

haben alle — der Himmel weiß, infolge welches kläglichen Unterrichts, den
sie genossen haben —, jenes Papiergespenst erwischt, das in unsern Gram¬
matiker als Konjunktiv des Präsens figurirt, aber keiner ist. Er hat el»
tragisches Los, unser armer Konjunktiv!

(hö-orisrlmnn folgt)




Thermidor

M«Das Schauspiel des raffiiiirtesten unter den französischen Bühueu-
schriftstellcrn der Gegenwart, das acht Tage lang das Staats-
schiff der französischen Republik dank der Unentschlossenheit ihrer
gegeinvärtigen Machthaber wie ein hilfloses Wrack auf stürmisch
erregte» Welle» hin- und hergeschleudert und beinahe zum
Scheitern gebracht hatte, ist am Z0. März auch im Berliner Lessingtheater
zum erstenmal aufgeführt worden, obwohl Sardon diese Aufführung nach den
lärmenden Vorgänge» in Paris aus übertriebenen patriotischen Zartgefühl aus¬
drücklich untersagt hatte. Wen» in Paris schon ein im großen und ganzen
ziemlich wahrheitsgetreues Stimmungsbild ans den Tagen des Thermidor 1794
die Köpfe, die für und wider schrieen, zu den tollsten Ausschreitungen erhitzt
hatte, trotzdem daß das Schauspiel nicht über zwei Aufführungen hinnus-
gekomme» war — ochse» mußte der feinfühlige Franzose, der bisher nur
»ach dem Grundsatze?<Zvumg. non vive gehandelt hatte, erst von den Berlinern
gewärtig sein, die doch sicherlich keine Gelegenheit vorübergehen lasse» würde»,
jede Anspielung, die etwa uns Persönlichkeiten und Zustände der gegenwärtigen
Republik zu deuten wäre, mit demonstrativen Beifall zu begrüßen! Aber der
Protest Sardous, der den übliche» Tribut, den deutsche Theaterdirektoren ohne
Kenntnis der wie die Katze im Sack gekauften Stücke zu zahlen Pflegen, bereits
vor Jahr und Tag eingestrichen hatte, blieb erfolglos. Der Direktor des
Lessingtheaters bestand auf .seinem Schein wie Shvlock, und er lief dabei uicht
einmal Gefahr, sich in das eigne Fleisch zu schneide», weil er eines Publikums
sicher sein konnte, das er drei Jahre lang durch Vorführung der zügellosesten
französischen und deutscheu Sitteudramcn zu einer Duldsamkeit herangezogen
hat, die beinahe auf Entäußerung jedes eignen Urteils und jeder nationalen
Regung hinausläuft.

Es handelt sich dabei meist nur um das so ziemlich feststehende Publi¬
kum einer ersten Vorstellung, das, wie die Verhältnisse in Berlin nun einmal


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0575" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209808"/>
          <fw type="header" place="top"> Thermidor</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1606" prev="#ID_1605"> haben alle &#x2014; der Himmel weiß, infolge welches kläglichen Unterrichts, den<lb/>
sie genossen haben &#x2014;, jenes Papiergespenst erwischt, das in unsern Gram¬<lb/>
matiker als Konjunktiv des Präsens figurirt, aber keiner ist. Er hat el»<lb/>
tragisches Los, unser armer Konjunktiv!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1607"> (hö-orisrlmnn folgt)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Thermidor</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1608"> M«Das Schauspiel des raffiiiirtesten unter den französischen Bühueu-<lb/>
schriftstellcrn der Gegenwart, das acht Tage lang das Staats-<lb/>
schiff der französischen Republik dank der Unentschlossenheit ihrer<lb/>
gegeinvärtigen Machthaber wie ein hilfloses Wrack auf stürmisch<lb/>
erregte» Welle» hin- und hergeschleudert und beinahe zum<lb/>
Scheitern gebracht hatte, ist am Z0. März auch im Berliner Lessingtheater<lb/>
zum erstenmal aufgeführt worden, obwohl Sardon diese Aufführung nach den<lb/>
lärmenden Vorgänge» in Paris aus übertriebenen patriotischen Zartgefühl aus¬<lb/>
drücklich untersagt hatte. Wen» in Paris schon ein im großen und ganzen<lb/>
ziemlich wahrheitsgetreues Stimmungsbild ans den Tagen des Thermidor 1794<lb/>
die Köpfe, die für und wider schrieen, zu den tollsten Ausschreitungen erhitzt<lb/>
hatte, trotzdem daß das Schauspiel nicht über zwei Aufführungen hinnus-<lb/>
gekomme» war &#x2014; ochse» mußte der feinfühlige Franzose, der bisher nur<lb/>
»ach dem Grundsatze?&lt;Zvumg. non vive gehandelt hatte, erst von den Berlinern<lb/>
gewärtig sein, die doch sicherlich keine Gelegenheit vorübergehen lasse» würde»,<lb/>
jede Anspielung, die etwa uns Persönlichkeiten und Zustände der gegenwärtigen<lb/>
Republik zu deuten wäre, mit demonstrativen Beifall zu begrüßen! Aber der<lb/>
Protest Sardous, der den übliche» Tribut, den deutsche Theaterdirektoren ohne<lb/>
Kenntnis der wie die Katze im Sack gekauften Stücke zu zahlen Pflegen, bereits<lb/>
vor Jahr und Tag eingestrichen hatte, blieb erfolglos. Der Direktor des<lb/>
Lessingtheaters bestand auf .seinem Schein wie Shvlock, und er lief dabei uicht<lb/>
einmal Gefahr, sich in das eigne Fleisch zu schneide», weil er eines Publikums<lb/>
sicher sein konnte, das er drei Jahre lang durch Vorführung der zügellosesten<lb/>
französischen und deutscheu Sitteudramcn zu einer Duldsamkeit herangezogen<lb/>
hat, die beinahe auf Entäußerung jedes eignen Urteils und jeder nationalen<lb/>
Regung hinausläuft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1609" next="#ID_1610"> Es handelt sich dabei meist nur um das so ziemlich feststehende Publi¬<lb/>
kum einer ersten Vorstellung, das, wie die Verhältnisse in Berlin nun einmal</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0575] Thermidor haben alle — der Himmel weiß, infolge welches kläglichen Unterrichts, den sie genossen haben —, jenes Papiergespenst erwischt, das in unsern Gram¬ matiker als Konjunktiv des Präsens figurirt, aber keiner ist. Er hat el» tragisches Los, unser armer Konjunktiv! (hö-orisrlmnn folgt) Thermidor M«Das Schauspiel des raffiiiirtesten unter den französischen Bühueu- schriftstellcrn der Gegenwart, das acht Tage lang das Staats- schiff der französischen Republik dank der Unentschlossenheit ihrer gegeinvärtigen Machthaber wie ein hilfloses Wrack auf stürmisch erregte» Welle» hin- und hergeschleudert und beinahe zum Scheitern gebracht hatte, ist am Z0. März auch im Berliner Lessingtheater zum erstenmal aufgeführt worden, obwohl Sardon diese Aufführung nach den lärmenden Vorgänge» in Paris aus übertriebenen patriotischen Zartgefühl aus¬ drücklich untersagt hatte. Wen» in Paris schon ein im großen und ganzen ziemlich wahrheitsgetreues Stimmungsbild ans den Tagen des Thermidor 1794 die Köpfe, die für und wider schrieen, zu den tollsten Ausschreitungen erhitzt hatte, trotzdem daß das Schauspiel nicht über zwei Aufführungen hinnus- gekomme» war — ochse» mußte der feinfühlige Franzose, der bisher nur »ach dem Grundsatze?<Zvumg. non vive gehandelt hatte, erst von den Berlinern gewärtig sein, die doch sicherlich keine Gelegenheit vorübergehen lasse» würde», jede Anspielung, die etwa uns Persönlichkeiten und Zustände der gegenwärtigen Republik zu deuten wäre, mit demonstrativen Beifall zu begrüßen! Aber der Protest Sardous, der den übliche» Tribut, den deutsche Theaterdirektoren ohne Kenntnis der wie die Katze im Sack gekauften Stücke zu zahlen Pflegen, bereits vor Jahr und Tag eingestrichen hatte, blieb erfolglos. Der Direktor des Lessingtheaters bestand auf .seinem Schein wie Shvlock, und er lief dabei uicht einmal Gefahr, sich in das eigne Fleisch zu schneide», weil er eines Publikums sicher sein konnte, das er drei Jahre lang durch Vorführung der zügellosesten französischen und deutscheu Sitteudramcn zu einer Duldsamkeit herangezogen hat, die beinahe auf Entäußerung jedes eignen Urteils und jeder nationalen Regung hinausläuft. Es handelt sich dabei meist nur um das so ziemlich feststehende Publi¬ kum einer ersten Vorstellung, das, wie die Verhältnisse in Berlin nun einmal

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/575
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/575>, abgerufen am 06.05.2024.