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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Überbürdung

Schluß darauf hin, daß unsre Verbindung mit Österreich durch eine wirtschaftliche
Einigung neu befestigt tverden wird, und daß unsre politischen Beziehungen
zu allen übrigen europäischen Staaten ebenso freundschaftlich geblieben sind,
wie sie es vor Jahresfrist waren, so fällt die Klage über den Rückgang unsrer
Stellung in auswärtigen Dingen wohl in sich zusammen.

Damit soll keineswegs ein friedeusseliger Optimismus gepredigt werden.
Wir halten vielmehr die Gesamtlage Europas nach wie vor für schwül und
gefährlich, und für unsre sicherste Stütze nach wie vor die eigne Machtstellung.
Gilt auch der Friede heute für gesichert, so sind doch Überraschungen keines¬
wegs abgeschlossen, denn im Osten wie im Westen entscheiden darüber
Personenfragen. Umsomehr aber gilt es, zusammenzustehen, um nicht ein Mi߬
verständnis aufkommen zu lassen, das in seinen Wirkungen eine moralische und
physische Schwächung bedeuten würde.




Die Überbürdung

achten der Kaiser selbst deu Herren Schulassessoren mit schnei¬
digen Hieb in die Parade gefahren ist, werden sie wohl eine
oder die andre Provinz ihres Reiches preisgeben und u. a. auch
durch Streichung der lateinischen und griechischen Persa den
Herzenswunsch des bekümmerten Vaters und Humanisten in
Ur. 40 der vorjährigen Grenzboten erfüllen müssen. Trotzdem fürchte ich, daß
die Hanptursache der Überbürdung von allen Reformen unberührt bleiben
wird, um das, was ich meine, verständlicher zu machen, schicke ich eine"
kurzen Abriß der Geschichte meines eignen Schullebens voraus, der zeigen
wird, wie ein Unterricht aussieht, der die Schüler nicht überbürdet.

Bis zum dreizehnten Lebensjahre besuchte ich die höhere Bürgerschule
meines Vaterstädtchens. Die Klassen waren denen des Gymnasiums gleich
benamset; der angehende NVC-Schütz trat in die "Sexta" ein. "N gieht
schun el de Sexte," sagte die Mutter, wenn sie ihren siebenjährigen Sprößling
vorstellte. In Sexta und Ouiuta süßen Knaben und Mädchen zusammen, es
gab also auch Sextanerinnen. Sehr hübsch war die biblische Geschichtsstunde
Sonnabends früh von acht bis nenn in der Quinta. Der Lehrer nahm das
Schulgeld ein, und nur lasen einstweilen biblische Geschichten nach folgendem
Turnus. Der Lehrer rief eiuen Knaben auf. Dieser las, so lauge er Lust
hatte, und rief dann ein Mädchen. Diese rief wieder einen Knaben, und so
fort. Bald entspannen sich zarte Beziehungen zwischen hüben und drüben


Die Überbürdung

Schluß darauf hin, daß unsre Verbindung mit Österreich durch eine wirtschaftliche
Einigung neu befestigt tverden wird, und daß unsre politischen Beziehungen
zu allen übrigen europäischen Staaten ebenso freundschaftlich geblieben sind,
wie sie es vor Jahresfrist waren, so fällt die Klage über den Rückgang unsrer
Stellung in auswärtigen Dingen wohl in sich zusammen.

Damit soll keineswegs ein friedeusseliger Optimismus gepredigt werden.
Wir halten vielmehr die Gesamtlage Europas nach wie vor für schwül und
gefährlich, und für unsre sicherste Stütze nach wie vor die eigne Machtstellung.
Gilt auch der Friede heute für gesichert, so sind doch Überraschungen keines¬
wegs abgeschlossen, denn im Osten wie im Westen entscheiden darüber
Personenfragen. Umsomehr aber gilt es, zusammenzustehen, um nicht ein Mi߬
verständnis aufkommen zu lassen, das in seinen Wirkungen eine moralische und
physische Schwächung bedeuten würde.




Die Überbürdung

achten der Kaiser selbst deu Herren Schulassessoren mit schnei¬
digen Hieb in die Parade gefahren ist, werden sie wohl eine
oder die andre Provinz ihres Reiches preisgeben und u. a. auch
durch Streichung der lateinischen und griechischen Persa den
Herzenswunsch des bekümmerten Vaters und Humanisten in
Ur. 40 der vorjährigen Grenzboten erfüllen müssen. Trotzdem fürchte ich, daß
die Hanptursache der Überbürdung von allen Reformen unberührt bleiben
wird, um das, was ich meine, verständlicher zu machen, schicke ich eine»
kurzen Abriß der Geschichte meines eignen Schullebens voraus, der zeigen
wird, wie ein Unterricht aussieht, der die Schüler nicht überbürdet.

Bis zum dreizehnten Lebensjahre besuchte ich die höhere Bürgerschule
meines Vaterstädtchens. Die Klassen waren denen des Gymnasiums gleich
benamset; der angehende NVC-Schütz trat in die „Sexta" ein. „N gieht
schun el de Sexte," sagte die Mutter, wenn sie ihren siebenjährigen Sprößling
vorstellte. In Sexta und Ouiuta süßen Knaben und Mädchen zusammen, es
gab also auch Sextanerinnen. Sehr hübsch war die biblische Geschichtsstunde
Sonnabends früh von acht bis nenn in der Quinta. Der Lehrer nahm das
Schulgeld ein, und nur lasen einstweilen biblische Geschichten nach folgendem
Turnus. Der Lehrer rief eiuen Knaben auf. Dieser las, so lauge er Lust
hatte, und rief dann ein Mädchen. Diese rief wieder einen Knaben, und so
fort. Bald entspannen sich zarte Beziehungen zwischen hüben und drüben


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[0063] Die Überbürdung Schluß darauf hin, daß unsre Verbindung mit Österreich durch eine wirtschaftliche Einigung neu befestigt tverden wird, und daß unsre politischen Beziehungen zu allen übrigen europäischen Staaten ebenso freundschaftlich geblieben sind, wie sie es vor Jahresfrist waren, so fällt die Klage über den Rückgang unsrer Stellung in auswärtigen Dingen wohl in sich zusammen. Damit soll keineswegs ein friedeusseliger Optimismus gepredigt werden. Wir halten vielmehr die Gesamtlage Europas nach wie vor für schwül und gefährlich, und für unsre sicherste Stütze nach wie vor die eigne Machtstellung. Gilt auch der Friede heute für gesichert, so sind doch Überraschungen keines¬ wegs abgeschlossen, denn im Osten wie im Westen entscheiden darüber Personenfragen. Umsomehr aber gilt es, zusammenzustehen, um nicht ein Mi߬ verständnis aufkommen zu lassen, das in seinen Wirkungen eine moralische und physische Schwächung bedeuten würde. Die Überbürdung achten der Kaiser selbst deu Herren Schulassessoren mit schnei¬ digen Hieb in die Parade gefahren ist, werden sie wohl eine oder die andre Provinz ihres Reiches preisgeben und u. a. auch durch Streichung der lateinischen und griechischen Persa den Herzenswunsch des bekümmerten Vaters und Humanisten in Ur. 40 der vorjährigen Grenzboten erfüllen müssen. Trotzdem fürchte ich, daß die Hanptursache der Überbürdung von allen Reformen unberührt bleiben wird, um das, was ich meine, verständlicher zu machen, schicke ich eine» kurzen Abriß der Geschichte meines eignen Schullebens voraus, der zeigen wird, wie ein Unterricht aussieht, der die Schüler nicht überbürdet. Bis zum dreizehnten Lebensjahre besuchte ich die höhere Bürgerschule meines Vaterstädtchens. Die Klassen waren denen des Gymnasiums gleich benamset; der angehende NVC-Schütz trat in die „Sexta" ein. „N gieht schun el de Sexte," sagte die Mutter, wenn sie ihren siebenjährigen Sprößling vorstellte. In Sexta und Ouiuta süßen Knaben und Mädchen zusammen, es gab also auch Sextanerinnen. Sehr hübsch war die biblische Geschichtsstunde Sonnabends früh von acht bis nenn in der Quinta. Der Lehrer nahm das Schulgeld ein, und nur lasen einstweilen biblische Geschichten nach folgendem Turnus. Der Lehrer rief eiuen Knaben auf. Dieser las, so lauge er Lust hatte, und rief dann ein Mädchen. Diese rief wieder einen Knaben, und so fort. Bald entspannen sich zarte Beziehungen zwischen hüben und drüben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/63>, abgerufen am 06.05.2024.