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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Schopenhauer reclivivus

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e Vürgerkrone dem Verlag von Reclam! Er hat ein Mittel
gegen die Sozialdemokratie erfunden und angefertigt, das un¬
fehlbar wirken muß, vorausgesetzt, daß es eingenommen wird.
Da unsre Arbeiterwelt aufgeklärt genug ist, zu wissen, was
ungefähr im Schopenhauer steht, und wo ein jedes steht, so
wird sie sich nur den ersten Band kaufen, um das vierte Vues des ersten
Teiles der "Welt als Wille und Vorstellung" zu studiren. Daraus wird sie
die Überzeugung gewinnen, daß es mit dem ganzen Leben nichts ist, und daß
eS keine größere Thorheit giebt, als nach Glück zu streben. So wird denn
die Lohnbewegung mit einem Schlage beseitigt sein. Die Leute werden, nach¬
dem sie durch das "Quietiv" der wahren Einsicht in die Eitelkeit aller mensch¬
lichen Bestrebungen den unvernünftigen Willen zum Schweigen gebracht haben,
allesamt still duldende Asketen werden. Ob auch still arbeitende? Das ist eine
Frage, die späterhin so manchem guten Patrioten noch einigen Kummer ver¬
ursachen könnte, aber was zunächst druckt und ängstigt, das Rumoren der
Arbeiter, das hätte doch ein Ende. Wird außer dem ersten auch noch der
zweite Teil gekauft, der u. a. die Metaphysik der Geschlechtsliebe enthalten
wird, und vielleicht noch der, in dem der Aufsatz "über die Weiber" Aufnahme
findet, dann umso besser, denn diese beiden Abhandlungen sind das beste
Gegengift gegen die in Bebels Buche und in der Frauenemauzipationsbewegnug
hervortretende Überschätzung des nach Schopenhauer fälschlich so genannten
schönen Geschlechts.*)

Das tief gefühlte Bedürfnis, dem durch eine billige Volksausgabe der
Werke Schopenhauers abgeholfen werden soll, ist Gott sei Dank noch gar nicht
vorhanden; hoffen wir, daß es nicht etwa erst durch die massenhafte Verbrei¬
tung dieses betäubenden Giftes geweckt werde! Ganz anders verhält sich die



*) Schopenhauers sämtliche Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Eduard
Grisebach. Bd. I,: Die Welt als Wille und Vorstellung (Teil 1), 1 Mark. Leipzig, Philipp
Reclam jun. -- Arthur Schopenhauers Werke, mit Einleitungen, erläuternden An¬
merkungen und einer biographisch-historischen Charakteristik Schopenhauers in Auswahl heraus¬
gegeben von Dr. Moritz Brasch. Mit einem Porträt Schopenhauers. Zwei Bände. Leipzig,
Gustav Font, 18O1.


Schopenhauer reclivivus

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e Vürgerkrone dem Verlag von Reclam! Er hat ein Mittel
gegen die Sozialdemokratie erfunden und angefertigt, das un¬
fehlbar wirken muß, vorausgesetzt, daß es eingenommen wird.
Da unsre Arbeiterwelt aufgeklärt genug ist, zu wissen, was
ungefähr im Schopenhauer steht, und wo ein jedes steht, so
wird sie sich nur den ersten Band kaufen, um das vierte Vues des ersten
Teiles der „Welt als Wille und Vorstellung" zu studiren. Daraus wird sie
die Überzeugung gewinnen, daß es mit dem ganzen Leben nichts ist, und daß
eS keine größere Thorheit giebt, als nach Glück zu streben. So wird denn
die Lohnbewegung mit einem Schlage beseitigt sein. Die Leute werden, nach¬
dem sie durch das „Quietiv" der wahren Einsicht in die Eitelkeit aller mensch¬
lichen Bestrebungen den unvernünftigen Willen zum Schweigen gebracht haben,
allesamt still duldende Asketen werden. Ob auch still arbeitende? Das ist eine
Frage, die späterhin so manchem guten Patrioten noch einigen Kummer ver¬
ursachen könnte, aber was zunächst druckt und ängstigt, das Rumoren der
Arbeiter, das hätte doch ein Ende. Wird außer dem ersten auch noch der
zweite Teil gekauft, der u. a. die Metaphysik der Geschlechtsliebe enthalten
wird, und vielleicht noch der, in dem der Aufsatz „über die Weiber" Aufnahme
findet, dann umso besser, denn diese beiden Abhandlungen sind das beste
Gegengift gegen die in Bebels Buche und in der Frauenemauzipationsbewegnug
hervortretende Überschätzung des nach Schopenhauer fälschlich so genannten
schönen Geschlechts.*)

Das tief gefühlte Bedürfnis, dem durch eine billige Volksausgabe der
Werke Schopenhauers abgeholfen werden soll, ist Gott sei Dank noch gar nicht
vorhanden; hoffen wir, daß es nicht etwa erst durch die massenhafte Verbrei¬
tung dieses betäubenden Giftes geweckt werde! Ganz anders verhält sich die



*) Schopenhauers sämtliche Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Eduard
Grisebach. Bd. I,: Die Welt als Wille und Vorstellung (Teil 1), 1 Mark. Leipzig, Philipp
Reclam jun. — Arthur Schopenhauers Werke, mit Einleitungen, erläuternden An¬
merkungen und einer biographisch-historischen Charakteristik Schopenhauers in Auswahl heraus¬
gegeben von Dr. Moritz Brasch. Mit einem Porträt Schopenhauers. Zwei Bände. Leipzig,
Gustav Font, 18O1.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/30>, abgerufen am 03.05.2024.