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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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?rana und publikmii

von seineu Vorgängern zur Bigotterie erzogne Volk seine Bemühungen um
das Gemeinwohl mit Kränkungen, die nicht ganz unverdient waren, weil er,
gleich seinem Bruder Josef, sich nicht auf die Zurückweisung klerikaler Über¬
griffe beschränkt, sondern mit rationalistischen Unverstande das Volksgemüt
verletzt und erbittert hatte.

Wir sehen, es dürfte nnter den heutigen religiösen und irreligiösen, kirch¬
lichen und antikirchlichen Richtungen kaum eine geben, die jener Mikrokosmus
in der Zeit von 1200 bis 1500 nicht schon im Keime gehegt hätte. Nur
das evangelische Kirchentum fehlte natürlich; das würde aber anch, wenn
Luther und Calvin 200 Jahre früher aufgetreten wären, schwerlich Eingang
gefunden haben, weil seine nnßere Form dein italienischen Bolksgeiste wider¬
strebt. Die Reibungen zwischen der Stadt und der Kirche, Konflikte, die
bald ans innern bald ans äußern Gründen hervorgingen, nahmen kein Ende,
aber schließlich fand sich doch immer, daß die beiden Gegner nicht von einander
lvstvnnten.




Drama und Publikum

mes der anziehendsten und an lehrreichen Aufschlüssen reichsten
Gebiete der litterarischen Forschung, die, wenn sie sich nicht
einseitig ans die Erzeugnisse des Schrifttums beschränke" will,
in hervorragendem Maße kulturgeschichtliche Gesichtspunkte wird
verfolgen müssen, die Wechselwirkung zwischen dem Schaffenden
und dem Aufnehmende", muß bei dein Zweige der dramatischen Litteratur eine
ganz besondre Bedeutung gewinnen, dn keine Dichtungsart so unmittelbar,
so lebendig zu dem Genießenden spricht wie diese. Der Lyriker und der Epiker
wenden sich in neuerer Zeit, wo der Rhapsode und der Rezitator doch nur
in enge Kreise eindringende Erscheinungen bleiben, um das lesende Publikum,
sein vermittelndes Werkzeug ist das gedruckte Wort. In Anerkennung dieser
Thatsache, mag sie nun erwünscht oder beklagenswert sein, wählt er seine
Ausdrucksmittel und arbeitet unter fortwährender Beobachtung dieses Zieles.
Er denkt zunächst "ur an den Einzelnen unter seinen Lesern und malt sich einen
Leserkreis aus, der sich eben aus lauter Einzelnen zusammensetzt. Ja es mag
sogar geschehen und geschieht vielfach, daß er sich an einen mehr oder weniger
scharf abgegrenzten >^!reif von Lesern, an ein bestimmtes Geschlecht, an einen
Stand, eine Klasse wendet. Ganz anders der Dramatiker. Dieser wendet sich
mit seinem Werk an die Masse, die sich zwar auch aus Einzelwesen zusammen-


?rana und publikmii

von seineu Vorgängern zur Bigotterie erzogne Volk seine Bemühungen um
das Gemeinwohl mit Kränkungen, die nicht ganz unverdient waren, weil er,
gleich seinem Bruder Josef, sich nicht auf die Zurückweisung klerikaler Über¬
griffe beschränkt, sondern mit rationalistischen Unverstande das Volksgemüt
verletzt und erbittert hatte.

Wir sehen, es dürfte nnter den heutigen religiösen und irreligiösen, kirch¬
lichen und antikirchlichen Richtungen kaum eine geben, die jener Mikrokosmus
in der Zeit von 1200 bis 1500 nicht schon im Keime gehegt hätte. Nur
das evangelische Kirchentum fehlte natürlich; das würde aber anch, wenn
Luther und Calvin 200 Jahre früher aufgetreten wären, schwerlich Eingang
gefunden haben, weil seine nnßere Form dein italienischen Bolksgeiste wider¬
strebt. Die Reibungen zwischen der Stadt und der Kirche, Konflikte, die
bald ans innern bald ans äußern Gründen hervorgingen, nahmen kein Ende,
aber schließlich fand sich doch immer, daß die beiden Gegner nicht von einander
lvstvnnten.




Drama und Publikum

mes der anziehendsten und an lehrreichen Aufschlüssen reichsten
Gebiete der litterarischen Forschung, die, wenn sie sich nicht
einseitig ans die Erzeugnisse des Schrifttums beschränke» will,
in hervorragendem Maße kulturgeschichtliche Gesichtspunkte wird
verfolgen müssen, die Wechselwirkung zwischen dem Schaffenden
und dem Aufnehmende», muß bei dein Zweige der dramatischen Litteratur eine
ganz besondre Bedeutung gewinnen, dn keine Dichtungsart so unmittelbar,
so lebendig zu dem Genießenden spricht wie diese. Der Lyriker und der Epiker
wenden sich in neuerer Zeit, wo der Rhapsode und der Rezitator doch nur
in enge Kreise eindringende Erscheinungen bleiben, um das lesende Publikum,
sein vermittelndes Werkzeug ist das gedruckte Wort. In Anerkennung dieser
Thatsache, mag sie nun erwünscht oder beklagenswert sein, wählt er seine
Ausdrucksmittel und arbeitet unter fortwährender Beobachtung dieses Zieles.
Er denkt zunächst »ur an den Einzelnen unter seinen Lesern und malt sich einen
Leserkreis aus, der sich eben aus lauter Einzelnen zusammensetzt. Ja es mag
sogar geschehen und geschieht vielfach, daß er sich an einen mehr oder weniger
scharf abgegrenzten >^!reif von Lesern, an ein bestimmtes Geschlecht, an einen
Stand, eine Klasse wendet. Ganz anders der Dramatiker. Dieser wendet sich
mit seinem Werk an die Masse, die sich zwar auch aus Einzelwesen zusammen-


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[0434] ?rana und publikmii von seineu Vorgängern zur Bigotterie erzogne Volk seine Bemühungen um das Gemeinwohl mit Kränkungen, die nicht ganz unverdient waren, weil er, gleich seinem Bruder Josef, sich nicht auf die Zurückweisung klerikaler Über¬ griffe beschränkt, sondern mit rationalistischen Unverstande das Volksgemüt verletzt und erbittert hatte. Wir sehen, es dürfte nnter den heutigen religiösen und irreligiösen, kirch¬ lichen und antikirchlichen Richtungen kaum eine geben, die jener Mikrokosmus in der Zeit von 1200 bis 1500 nicht schon im Keime gehegt hätte. Nur das evangelische Kirchentum fehlte natürlich; das würde aber anch, wenn Luther und Calvin 200 Jahre früher aufgetreten wären, schwerlich Eingang gefunden haben, weil seine nnßere Form dein italienischen Bolksgeiste wider¬ strebt. Die Reibungen zwischen der Stadt und der Kirche, Konflikte, die bald ans innern bald ans äußern Gründen hervorgingen, nahmen kein Ende, aber schließlich fand sich doch immer, daß die beiden Gegner nicht von einander lvstvnnten. Drama und Publikum mes der anziehendsten und an lehrreichen Aufschlüssen reichsten Gebiete der litterarischen Forschung, die, wenn sie sich nicht einseitig ans die Erzeugnisse des Schrifttums beschränke» will, in hervorragendem Maße kulturgeschichtliche Gesichtspunkte wird verfolgen müssen, die Wechselwirkung zwischen dem Schaffenden und dem Aufnehmende», muß bei dein Zweige der dramatischen Litteratur eine ganz besondre Bedeutung gewinnen, dn keine Dichtungsart so unmittelbar, so lebendig zu dem Genießenden spricht wie diese. Der Lyriker und der Epiker wenden sich in neuerer Zeit, wo der Rhapsode und der Rezitator doch nur in enge Kreise eindringende Erscheinungen bleiben, um das lesende Publikum, sein vermittelndes Werkzeug ist das gedruckte Wort. In Anerkennung dieser Thatsache, mag sie nun erwünscht oder beklagenswert sein, wählt er seine Ausdrucksmittel und arbeitet unter fortwährender Beobachtung dieses Zieles. Er denkt zunächst »ur an den Einzelnen unter seinen Lesern und malt sich einen Leserkreis aus, der sich eben aus lauter Einzelnen zusammensetzt. Ja es mag sogar geschehen und geschieht vielfach, daß er sich an einen mehr oder weniger scharf abgegrenzten >^!reif von Lesern, an ein bestimmtes Geschlecht, an einen Stand, eine Klasse wendet. Ganz anders der Dramatiker. Dieser wendet sich mit seinem Werk an die Masse, die sich zwar auch aus Einzelwesen zusammen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/434>, abgerufen am 04.05.2024.