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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Hamerling der Philosoph

andachten. An vielen Anstalten, wo sie eingeführt sind, herrscht ein so frivoler
Ton, daß man erstaunt nach dem Grunde fragt. Zum Teil sind die Schüler
ebenfalls übersättigt und nehmen nichts mehr auf, zum Teil wisse" sie, das;
die Lehrer selbst das nicht glauben, was sie predigen, und verlieren so die
Achtung vor dein Lehrer und die Achtung vor dem Heiligen. Nein, durch
so äußerliche Mittel läßt sich Frömmigkeit nicht schaffen. Frömmigkeit und
Vaterlandsliebe sind zarte Pflanzen, die man nicht immerfort in die Hand
nehme" darf. Wenn der Lehrer selbst streng sittliche Grundsätze hat und dar¬
nach handelt, wenn er von Gott und göttlichen Lehren mit einer heiligen
Scheu spricht, dann wird er in den Kindern auch jene Frömmigkeit wecken,
die zwar nicht immer deu Menschen, aber stets Gott gefällt.

So könnte unsre Jugend zu Offenheit, Pflichttreue und Willensstärke,
Vaterlandsliebe und Frömmigkeit erzogen werden, wenn man sich oben damit
begnügte, allgemeine Vcstimmnngen zu erlassen, im einzelnen aber dem Lehrer
mehr Freiheit und Selbständigkeit ließe. Dieser Mangel an Selbständigkeit
macht sich auch bei den Schülern, namentlich in deu obersten Klassen, geltend.
Ein seltsamer Widerspruch! Auf der einen Seite scheut man sich, die Schüler
fest anzugreifen, auf der andern gängelt mau sie bis zur Universität wie kleine
Kinder. Der Primaner wird zwar mit "Sie" angeredet, im übrigen aber
ebenso behandelt wie der Sextaner. Für deu Achtzehnjährigen gelten dieselben
Schulgesetze wie für den neunjährigen, er muß in der Klasse in einem Fache
ebenso viel leisten wie im andern, eigentümliche Richtungen seines Geistes
werden nicht berücksichtigt, unerfahren, unselbständig, unfähig, sich fortzubilden,
verläßt er die Schule, vollgestopft mit Kenntnissen, aber -- kein Charakter.
Ganz recht: es ist hohe Zeit, daß die Schule etwas für die Charakterbildung thue.




Hamerling der Philosoph

ach seinem Tode hat Hamerliug die Welt "och mit einem philo¬
sophischen Werk überrascht, desse" "Niitorlvrrcktnr" an seiner
Stelle ein Freund, or. Adolf Harpf, hat besorgen müssen.")
Das Vorwort enthält eine ausführliche Verteidigung seines
Unterfangens, als Dichter Philosophie zu treiben und sogar ein
philosophisches Buch zu schreibe". Mau muß lächeln über den Ernst, mit
dem er die etwaige" Einwürfe litterarischer Philister widerlegt. Solchen



") Die Atomistik deS Willens. Beiträge zur Kritik der moderne" Erkenntnis.
Bon Robert Hnmerling. Zwei Bände. Hamburg, Verlag und Druckerei der Aktien-
gesellschaft (I. F. Richter), 1891.
Hamerling der Philosoph

andachten. An vielen Anstalten, wo sie eingeführt sind, herrscht ein so frivoler
Ton, daß man erstaunt nach dem Grunde fragt. Zum Teil sind die Schüler
ebenfalls übersättigt und nehmen nichts mehr auf, zum Teil wisse» sie, das;
die Lehrer selbst das nicht glauben, was sie predigen, und verlieren so die
Achtung vor dein Lehrer und die Achtung vor dem Heiligen. Nein, durch
so äußerliche Mittel läßt sich Frömmigkeit nicht schaffen. Frömmigkeit und
Vaterlandsliebe sind zarte Pflanzen, die man nicht immerfort in die Hand
nehme» darf. Wenn der Lehrer selbst streng sittliche Grundsätze hat und dar¬
nach handelt, wenn er von Gott und göttlichen Lehren mit einer heiligen
Scheu spricht, dann wird er in den Kindern auch jene Frömmigkeit wecken,
die zwar nicht immer deu Menschen, aber stets Gott gefällt.

So könnte unsre Jugend zu Offenheit, Pflichttreue und Willensstärke,
Vaterlandsliebe und Frömmigkeit erzogen werden, wenn man sich oben damit
begnügte, allgemeine Vcstimmnngen zu erlassen, im einzelnen aber dem Lehrer
mehr Freiheit und Selbständigkeit ließe. Dieser Mangel an Selbständigkeit
macht sich auch bei den Schülern, namentlich in deu obersten Klassen, geltend.
Ein seltsamer Widerspruch! Auf der einen Seite scheut man sich, die Schüler
fest anzugreifen, auf der andern gängelt mau sie bis zur Universität wie kleine
Kinder. Der Primaner wird zwar mit „Sie" angeredet, im übrigen aber
ebenso behandelt wie der Sextaner. Für deu Achtzehnjährigen gelten dieselben
Schulgesetze wie für den neunjährigen, er muß in der Klasse in einem Fache
ebenso viel leisten wie im andern, eigentümliche Richtungen seines Geistes
werden nicht berücksichtigt, unerfahren, unselbständig, unfähig, sich fortzubilden,
verläßt er die Schule, vollgestopft mit Kenntnissen, aber — kein Charakter.
Ganz recht: es ist hohe Zeit, daß die Schule etwas für die Charakterbildung thue.




Hamerling der Philosoph

ach seinem Tode hat Hamerliug die Welt »och mit einem philo¬
sophischen Werk überrascht, desse» „Niitorlvrrcktnr" an seiner
Stelle ein Freund, or. Adolf Harpf, hat besorgen müssen.")
Das Vorwort enthält eine ausführliche Verteidigung seines
Unterfangens, als Dichter Philosophie zu treiben und sogar ein
philosophisches Buch zu schreibe». Mau muß lächeln über den Ernst, mit
dem er die etwaige» Einwürfe litterarischer Philister widerlegt. Solchen



") Die Atomistik deS Willens. Beiträge zur Kritik der moderne» Erkenntnis.
Bon Robert Hnmerling. Zwei Bände. Hamburg, Verlag und Druckerei der Aktien-
gesellschaft (I. F. Richter), 1891.
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[0478] Hamerling der Philosoph andachten. An vielen Anstalten, wo sie eingeführt sind, herrscht ein so frivoler Ton, daß man erstaunt nach dem Grunde fragt. Zum Teil sind die Schüler ebenfalls übersättigt und nehmen nichts mehr auf, zum Teil wisse» sie, das; die Lehrer selbst das nicht glauben, was sie predigen, und verlieren so die Achtung vor dein Lehrer und die Achtung vor dem Heiligen. Nein, durch so äußerliche Mittel läßt sich Frömmigkeit nicht schaffen. Frömmigkeit und Vaterlandsliebe sind zarte Pflanzen, die man nicht immerfort in die Hand nehme» darf. Wenn der Lehrer selbst streng sittliche Grundsätze hat und dar¬ nach handelt, wenn er von Gott und göttlichen Lehren mit einer heiligen Scheu spricht, dann wird er in den Kindern auch jene Frömmigkeit wecken, die zwar nicht immer deu Menschen, aber stets Gott gefällt. So könnte unsre Jugend zu Offenheit, Pflichttreue und Willensstärke, Vaterlandsliebe und Frömmigkeit erzogen werden, wenn man sich oben damit begnügte, allgemeine Vcstimmnngen zu erlassen, im einzelnen aber dem Lehrer mehr Freiheit und Selbständigkeit ließe. Dieser Mangel an Selbständigkeit macht sich auch bei den Schülern, namentlich in deu obersten Klassen, geltend. Ein seltsamer Widerspruch! Auf der einen Seite scheut man sich, die Schüler fest anzugreifen, auf der andern gängelt mau sie bis zur Universität wie kleine Kinder. Der Primaner wird zwar mit „Sie" angeredet, im übrigen aber ebenso behandelt wie der Sextaner. Für deu Achtzehnjährigen gelten dieselben Schulgesetze wie für den neunjährigen, er muß in der Klasse in einem Fache ebenso viel leisten wie im andern, eigentümliche Richtungen seines Geistes werden nicht berücksichtigt, unerfahren, unselbständig, unfähig, sich fortzubilden, verläßt er die Schule, vollgestopft mit Kenntnissen, aber — kein Charakter. Ganz recht: es ist hohe Zeit, daß die Schule etwas für die Charakterbildung thue. Hamerling der Philosoph ach seinem Tode hat Hamerliug die Welt »och mit einem philo¬ sophischen Werk überrascht, desse» „Niitorlvrrcktnr" an seiner Stelle ein Freund, or. Adolf Harpf, hat besorgen müssen.") Das Vorwort enthält eine ausführliche Verteidigung seines Unterfangens, als Dichter Philosophie zu treiben und sogar ein philosophisches Buch zu schreibe». Mau muß lächeln über den Ernst, mit dem er die etwaige» Einwürfe litterarischer Philister widerlegt. Solchen ") Die Atomistik deS Willens. Beiträge zur Kritik der moderne» Erkenntnis. Bon Robert Hnmerling. Zwei Bände. Hamburg, Verlag und Druckerei der Aktien- gesellschaft (I. F. Richter), 1891.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/478>, abgerufen am 04.05.2024.