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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Wirtschaftsjahr

weigerte, noch auch die Jesuiten, für deren Wiederaufnahme die Germania
heute in alleu Tonarten eintritt. Es scheint nnn, daß die Germania mit der
Jesnitenfrage ihr viel größeres Interesse an der Schulfrage maskirt, und daß
sich das Zentrum den Schein zu geben gedenkt, als bringe es noch ein großes
Opfer, wenn es die Jesuiten fallen lasse, um sich mit dem Schulgesetze zu
begnügen.

In Wirklichkeit spricht keine Erwügnng realer Politik dafür, daß dem
Zentrum überhaupt noch irgendwelche Zugeständnisse zu machen seien. Man
wirst dem Grafen Caprivi vor, daß unter ihm die Ära der unnötigen Zu¬
geständnisse begonnen habe; wir Wollen hoffen, daß dieser Satz ans die zunächst
bevorstehende parlamentarische Politik des Reichskanzlers keine Anwendung finde.




Das Wirtschaftsjahr ^89^

an mag von der Neuen Freien Presse im übrigen halten, was
man will, den Leitartikeln ihres "Eeonomist" überschriebnen
Handelsteils muß mau es lassen, daß sie von gewiegten und
zum Teil geistreichen Fachmännern geschrieben, daher in ihren
thatsächlichen Angaben zuverlässig und in den räsonnirenden
Teilen beachtenswert sind. Die "ökonomische Rückschau" vom 1. Januar mit
dem Goethischen Motto: "Den Zufall bändige zum Glück" verdientes, wie uns
scheint, daß wir die Hauptgedanken herausheben und mit einigen kritischen
Bemerkungen Versehen.

Der Verfasser beginnt mit den Flüchtlingen ans Rußland, denen man
hie und da in deu Straßen Wiens begegne -- gemeint sind jedenfalls Vertriebne
Juden --, und mit dem, was sie erzählen. "Die heimatlosen Wandrer verkünden
uns, daß der russische Despotismus, der die höchste Gefahr für die Gesittung
und die Wohlfahrt Europas bildet, von einer schweren Krise erfaßt ist, die er
nicht mehr zu bewältigen vermag. Eine Regierung, die nicht mehr imstande
ist, die Bewohner des Reichs vor dem Hunger zu schützen, beweist, daß sie
bis ins innerste Mark morsch geworden ist, daß die Fäulnis schon die Lebens-
vrgane ergriffen hat, und daß sie noch drohen, aber nicht mehr handeln kann.
Rußland ist besiegt, noch ehe es einen Schwertstreich geführt hat." Das mag
ein wenig übertrieben sein, aber der Hauptsache nach ist es unzweifelhaft
richtig. Die Furcht vor Rußland und die Sehnsucht nach seiner Freundschaft
sind einem großen Teile des deutschen Volkes stets rätselhafte Erscheinungen
geblieben; heute würden sie von niemand mehr verstanden werden.


Das Wirtschaftsjahr

weigerte, noch auch die Jesuiten, für deren Wiederaufnahme die Germania
heute in alleu Tonarten eintritt. Es scheint nnn, daß die Germania mit der
Jesnitenfrage ihr viel größeres Interesse an der Schulfrage maskirt, und daß
sich das Zentrum den Schein zu geben gedenkt, als bringe es noch ein großes
Opfer, wenn es die Jesuiten fallen lasse, um sich mit dem Schulgesetze zu
begnügen.

In Wirklichkeit spricht keine Erwügnng realer Politik dafür, daß dem
Zentrum überhaupt noch irgendwelche Zugeständnisse zu machen seien. Man
wirst dem Grafen Caprivi vor, daß unter ihm die Ära der unnötigen Zu¬
geständnisse begonnen habe; wir Wollen hoffen, daß dieser Satz ans die zunächst
bevorstehende parlamentarische Politik des Reichskanzlers keine Anwendung finde.




Das Wirtschaftsjahr ^89^

an mag von der Neuen Freien Presse im übrigen halten, was
man will, den Leitartikeln ihres „Eeonomist" überschriebnen
Handelsteils muß mau es lassen, daß sie von gewiegten und
zum Teil geistreichen Fachmännern geschrieben, daher in ihren
thatsächlichen Angaben zuverlässig und in den räsonnirenden
Teilen beachtenswert sind. Die „ökonomische Rückschau" vom 1. Januar mit
dem Goethischen Motto: „Den Zufall bändige zum Glück" verdientes, wie uns
scheint, daß wir die Hauptgedanken herausheben und mit einigen kritischen
Bemerkungen Versehen.

Der Verfasser beginnt mit den Flüchtlingen ans Rußland, denen man
hie und da in deu Straßen Wiens begegne — gemeint sind jedenfalls Vertriebne
Juden —, und mit dem, was sie erzählen. „Die heimatlosen Wandrer verkünden
uns, daß der russische Despotismus, der die höchste Gefahr für die Gesittung
und die Wohlfahrt Europas bildet, von einer schweren Krise erfaßt ist, die er
nicht mehr zu bewältigen vermag. Eine Regierung, die nicht mehr imstande
ist, die Bewohner des Reichs vor dem Hunger zu schützen, beweist, daß sie
bis ins innerste Mark morsch geworden ist, daß die Fäulnis schon die Lebens-
vrgane ergriffen hat, und daß sie noch drohen, aber nicht mehr handeln kann.
Rußland ist besiegt, noch ehe es einen Schwertstreich geführt hat." Das mag
ein wenig übertrieben sein, aber der Hauptsache nach ist es unzweifelhaft
richtig. Die Furcht vor Rußland und die Sehnsucht nach seiner Freundschaft
sind einem großen Teile des deutschen Volkes stets rätselhafte Erscheinungen
geblieben; heute würden sie von niemand mehr verstanden werden.


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[0116] Das Wirtschaftsjahr weigerte, noch auch die Jesuiten, für deren Wiederaufnahme die Germania heute in alleu Tonarten eintritt. Es scheint nnn, daß die Germania mit der Jesnitenfrage ihr viel größeres Interesse an der Schulfrage maskirt, und daß sich das Zentrum den Schein zu geben gedenkt, als bringe es noch ein großes Opfer, wenn es die Jesuiten fallen lasse, um sich mit dem Schulgesetze zu begnügen. In Wirklichkeit spricht keine Erwügnng realer Politik dafür, daß dem Zentrum überhaupt noch irgendwelche Zugeständnisse zu machen seien. Man wirst dem Grafen Caprivi vor, daß unter ihm die Ära der unnötigen Zu¬ geständnisse begonnen habe; wir Wollen hoffen, daß dieser Satz ans die zunächst bevorstehende parlamentarische Politik des Reichskanzlers keine Anwendung finde. Das Wirtschaftsjahr ^89^ an mag von der Neuen Freien Presse im übrigen halten, was man will, den Leitartikeln ihres „Eeonomist" überschriebnen Handelsteils muß mau es lassen, daß sie von gewiegten und zum Teil geistreichen Fachmännern geschrieben, daher in ihren thatsächlichen Angaben zuverlässig und in den räsonnirenden Teilen beachtenswert sind. Die „ökonomische Rückschau" vom 1. Januar mit dem Goethischen Motto: „Den Zufall bändige zum Glück" verdientes, wie uns scheint, daß wir die Hauptgedanken herausheben und mit einigen kritischen Bemerkungen Versehen. Der Verfasser beginnt mit den Flüchtlingen ans Rußland, denen man hie und da in deu Straßen Wiens begegne — gemeint sind jedenfalls Vertriebne Juden —, und mit dem, was sie erzählen. „Die heimatlosen Wandrer verkünden uns, daß der russische Despotismus, der die höchste Gefahr für die Gesittung und die Wohlfahrt Europas bildet, von einer schweren Krise erfaßt ist, die er nicht mehr zu bewältigen vermag. Eine Regierung, die nicht mehr imstande ist, die Bewohner des Reichs vor dem Hunger zu schützen, beweist, daß sie bis ins innerste Mark morsch geworden ist, daß die Fäulnis schon die Lebens- vrgane ergriffen hat, und daß sie noch drohen, aber nicht mehr handeln kann. Rußland ist besiegt, noch ehe es einen Schwertstreich geführt hat." Das mag ein wenig übertrieben sein, aber der Hauptsache nach ist es unzweifelhaft richtig. Die Furcht vor Rußland und die Sehnsucht nach seiner Freundschaft sind einem großen Teile des deutschen Volkes stets rätselhafte Erscheinungen geblieben; heute würden sie von niemand mehr verstanden werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/116>, abgerufen am 06.05.2024.