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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

eigentlich klug vo" ihnen, denn sie lebten in unsrer Erinnerung fort, von Tüll-
nnd Gazeschleiern umgeben, wie die Engel auf alten Ölbildern. Mit Herrn
Denker sprachen wir noch lange von ihnen, besonders wenn die Kaninchen
genugsam erörtert waren; aber auch er wußte nichts neues von ihnen, nur
das eine, daß sie wohl ihr Schäfchen ins Trockne gebracht und kaum mehr
nötig hätten, Tanzstunde zu geben. Dabei seufzte er wehmütig, was wohl
bedeuten sollte, daß sein Schäfchen noch nicht so weit sei. Aber er lud uns
doch einmal ein, bei ihm Kaninchenbraten zu essen, eine Aufforderung, die wir
zu unsrer großen Trauer ablehnen mußten.

Wiedergefunden habe ich aber Herrn und Madame Weihkopf doch, und
zwar in der Zeitung. Kurz nach einander sind sie in vorgerücktem Alter ge¬
storben und hoffentlich dorthin gelangt, woher sie nach unsrer Ansicht gekommen
waren, nämlich in den Himmel. Vielleicht tanzen sie jetzt dort den kleinen
Engeln etwas vor und solchen Leuten, die von der Erde nicht gar zu blasirt
gekommen sind. Da droben giebt es gewiß noch altmodische lustige Kinder,
die Spaß nil solchen Sachen finden. Auf der Erde werden sie immer seltner.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die Berliner Pöbelexzesse und der Notstand.

Die sozinldemvkrntische
Presse hat vom ersten bis zum letzten Augenblicke behauptet, zeilenjagende Reporter
hätten die widerlichen Vorfälle stark übertrieben; die Exzedenten seien nicht be¬
schäftigungslose Arbeiter, sondern Zuhälter gewesen, und die Hurrakanaille, die
in Wolffs Telegrammen als "enthusiastisch begrüßendes Volks" zu figuriren pflegt,
habe die Straßenfüllung dazu geliefert. Der "Vorwärts" schloß seinen ersten
Bericht mit den Worten! Wenn das Lumpenproletariat in Ballonmützen oder in
seidnen Hütten Lust zu Pulsader empfindet, so mögen diese Leute das allein aus¬
machen; wenn der Arbeiter heutzutage auch keine materiellen Güter zu verlieren
hat, so würden ihn die von gewisser Seite so heiß ersehnten Folgen in seinen
wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen um so härter treffen. Das Lumpen¬
proletariat -- von oben und von unten -- hat nichts zu verlieren; den Arbeiter
aber können Unvorsichtigkeiten um seine heiligsten Rechte bringen. Und in Ur. 49
veröffentlichte er eine Ansprache "An die Arbeiter Berlins," worin vor jeder
Teilnahme an Tumulten aufs eindringlichste gewarnt wird.

Die Organe der bürgerlichen Parteien geben der sozialdemokratischen
Verhetzung die Schuld, und zwar desto entschieduer, je weiter sie mich links
stehen oder je mehr sie reine Geschäftsunternehmungen sind; das "Berliner
Tageblatt," ferner das Organ der Jobber, Gründer und Kartelle, wie der Vorwärts
die "Börsenzeitnng" nennt, und die "Freisinnige Zeitung" thun sich besonders


Maßgebliches und Unmaßgebliches

eigentlich klug vo» ihnen, denn sie lebten in unsrer Erinnerung fort, von Tüll-
nnd Gazeschleiern umgeben, wie die Engel auf alten Ölbildern. Mit Herrn
Denker sprachen wir noch lange von ihnen, besonders wenn die Kaninchen
genugsam erörtert waren; aber auch er wußte nichts neues von ihnen, nur
das eine, daß sie wohl ihr Schäfchen ins Trockne gebracht und kaum mehr
nötig hätten, Tanzstunde zu geben. Dabei seufzte er wehmütig, was wohl
bedeuten sollte, daß sein Schäfchen noch nicht so weit sei. Aber er lud uns
doch einmal ein, bei ihm Kaninchenbraten zu essen, eine Aufforderung, die wir
zu unsrer großen Trauer ablehnen mußten.

Wiedergefunden habe ich aber Herrn und Madame Weihkopf doch, und
zwar in der Zeitung. Kurz nach einander sind sie in vorgerücktem Alter ge¬
storben und hoffentlich dorthin gelangt, woher sie nach unsrer Ansicht gekommen
waren, nämlich in den Himmel. Vielleicht tanzen sie jetzt dort den kleinen
Engeln etwas vor und solchen Leuten, die von der Erde nicht gar zu blasirt
gekommen sind. Da droben giebt es gewiß noch altmodische lustige Kinder,
die Spaß nil solchen Sachen finden. Auf der Erde werden sie immer seltner.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die Berliner Pöbelexzesse und der Notstand.

Die sozinldemvkrntische
Presse hat vom ersten bis zum letzten Augenblicke behauptet, zeilenjagende Reporter
hätten die widerlichen Vorfälle stark übertrieben; die Exzedenten seien nicht be¬
schäftigungslose Arbeiter, sondern Zuhälter gewesen, und die Hurrakanaille, die
in Wolffs Telegrammen als „enthusiastisch begrüßendes Volks" zu figuriren pflegt,
habe die Straßenfüllung dazu geliefert. Der „Vorwärts" schloß seinen ersten
Bericht mit den Worten! Wenn das Lumpenproletariat in Ballonmützen oder in
seidnen Hütten Lust zu Pulsader empfindet, so mögen diese Leute das allein aus¬
machen; wenn der Arbeiter heutzutage auch keine materiellen Güter zu verlieren
hat, so würden ihn die von gewisser Seite so heiß ersehnten Folgen in seinen
wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen um so härter treffen. Das Lumpen¬
proletariat — von oben und von unten — hat nichts zu verlieren; den Arbeiter
aber können Unvorsichtigkeiten um seine heiligsten Rechte bringen. Und in Ur. 49
veröffentlichte er eine Ansprache „An die Arbeiter Berlins," worin vor jeder
Teilnahme an Tumulten aufs eindringlichste gewarnt wird.

Die Organe der bürgerlichen Parteien geben der sozialdemokratischen
Verhetzung die Schuld, und zwar desto entschieduer, je weiter sie mich links
stehen oder je mehr sie reine Geschäftsunternehmungen sind; das „Berliner
Tageblatt," ferner das Organ der Jobber, Gründer und Kartelle, wie der Vorwärts
die „Börsenzeitnng" nennt, und die „Freisinnige Zeitung" thun sich besonders


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/512>, abgerufen am 06.05.2024.