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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Auf einem Kieshaufen an der Chaussee sahen sie eine dunkle Gestalt
sitzen. Kaum waren sie in ihre Nähe gekommen, da stürzte sie mit einem
Aufschrei auf die drei zu. Es war Frau Henriette. schluchzend warf sie sich
auf den Professor und schlang ihre Arme um seinen Hals, während die beiden
Freunde den vor Wut und Scham zitternden Gelehrten rechts und links empor¬
hielten. ^

Wer zweifelt noch, daß unsre Freunde die Prüfung glänzend bestanden?

Das Jahr brachte einen entzückenden Herbst. Karl Wichtel hatte seine
Ferien angetreten und reiste, von seinem Freunde Fritz begleitet, nach der
Schweiz, um sich seine Marguerite mich dem Weichselstrande zu holen.

Auch Lammerts waren mit ihrer achtzehnjährigen, hübschen Elfe nach
dem Genfer See gereist. Und dort, im Anblick der herrlichen Natur und im
Verkehr mit dem glücklichen jungen Paar und dein lebenslustigen Doktor
Flügger erkannte Frau Henriette, das; es in der Welt doch noch etwas
schöneres gäbe, als den politischen Tagesrnhm, den roten Adlerorden und den
Keheimratstitel.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Individualismus und Individualitäten.

Der Individualismus in der
Erziehung -- so nennt sich die wissenschaftliche Beigabe des diesjährigen Weidmän¬
nischen Schnlkalenders, deren Verfasser mit ein paar hübschen Citaten aus Wilh. von
Humboldt und Paulsen -- zu spät leider! -- für größere Freiheit im preußische"
Gymnasialwesen eintritt. Der Hauptvertreter des Preußischen Kultusministers in
der Dezemberkonferenz hatte eine solche Freiheit verheißen. Die vorwiegend kon¬
servativ gesinnte Konferenz jubelte dein begeistert zu. Die Grenzboten und andre
Blätter nahmen den Gedanken lebhaft ans, während die Vertreter des Individua¬
lismus sich wohl mit Gleichberechtignngsfragen beschäftigten, hie und da auch einen
Gemeinplatz vom Wert und von den Rechte" der Persönlichkeit einstreuten, jedoch
um die Frage, wie Persönlichkeiten, wie Individualitäten entsteh" und gedeihn, sich
herzlich wenig kümmerten. Reicht diese Wahrnehmung nicht allein schon aus, uns
vor dem Gebrauch all dieser -ismusse zu warnen? Wo es gilt, verworrne Instinkte
blöder Massen schnell auf el" Feldgeschrei zu vereine", da sind sie gut. Dem
ernsthaften Manne, der in den Dingen lebt, der in stiller Arbeit zu einem Menschen,
einem Wesen mit eignen Empfindungen, einer "Individualität" erwachsen ist, sind
sie widerwärtig.


Der leere Reichstag.

Man klagt soviel über die Beschlußuufnhigkeit des
Reichstags. Die einen sehen in dem Mangel an Tagegeldern den Grund dieser
traurigen Erscheinung, die andern in der allgemeinen Mißstimmung. Vielleicht
hülfe el" kleiner Zusatz zur Reichsverfassung- Wer dreimal ohne Erlaubnis fehlt,
ist nicht mehr Abgeordneter.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Auf einem Kieshaufen an der Chaussee sahen sie eine dunkle Gestalt
sitzen. Kaum waren sie in ihre Nähe gekommen, da stürzte sie mit einem
Aufschrei auf die drei zu. Es war Frau Henriette. schluchzend warf sie sich
auf den Professor und schlang ihre Arme um seinen Hals, während die beiden
Freunde den vor Wut und Scham zitternden Gelehrten rechts und links empor¬
hielten. ^

Wer zweifelt noch, daß unsre Freunde die Prüfung glänzend bestanden?

Das Jahr brachte einen entzückenden Herbst. Karl Wichtel hatte seine
Ferien angetreten und reiste, von seinem Freunde Fritz begleitet, nach der
Schweiz, um sich seine Marguerite mich dem Weichselstrande zu holen.

Auch Lammerts waren mit ihrer achtzehnjährigen, hübschen Elfe nach
dem Genfer See gereist. Und dort, im Anblick der herrlichen Natur und im
Verkehr mit dem glücklichen jungen Paar und dein lebenslustigen Doktor
Flügger erkannte Frau Henriette, das; es in der Welt doch noch etwas
schöneres gäbe, als den politischen Tagesrnhm, den roten Adlerorden und den
Keheimratstitel.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Individualismus und Individualitäten.

Der Individualismus in der
Erziehung — so nennt sich die wissenschaftliche Beigabe des diesjährigen Weidmän¬
nischen Schnlkalenders, deren Verfasser mit ein paar hübschen Citaten aus Wilh. von
Humboldt und Paulsen — zu spät leider! — für größere Freiheit im preußische»
Gymnasialwesen eintritt. Der Hauptvertreter des Preußischen Kultusministers in
der Dezemberkonferenz hatte eine solche Freiheit verheißen. Die vorwiegend kon¬
servativ gesinnte Konferenz jubelte dein begeistert zu. Die Grenzboten und andre
Blätter nahmen den Gedanken lebhaft ans, während die Vertreter des Individua¬
lismus sich wohl mit Gleichberechtignngsfragen beschäftigten, hie und da auch einen
Gemeinplatz vom Wert und von den Rechte» der Persönlichkeit einstreuten, jedoch
um die Frage, wie Persönlichkeiten, wie Individualitäten entsteh» und gedeihn, sich
herzlich wenig kümmerten. Reicht diese Wahrnehmung nicht allein schon aus, uns
vor dem Gebrauch all dieser -ismusse zu warnen? Wo es gilt, verworrne Instinkte
blöder Massen schnell auf el» Feldgeschrei zu vereine», da sind sie gut. Dem
ernsthaften Manne, der in den Dingen lebt, der in stiller Arbeit zu einem Menschen,
einem Wesen mit eignen Empfindungen, einer „Individualität" erwachsen ist, sind
sie widerwärtig.


Der leere Reichstag.

Man klagt soviel über die Beschlußuufnhigkeit des
Reichstags. Die einen sehen in dem Mangel an Tagegeldern den Grund dieser
traurigen Erscheinung, die andern in der allgemeinen Mißstimmung. Vielleicht
hülfe el« kleiner Zusatz zur Reichsverfassung- Wer dreimal ohne Erlaubnis fehlt,
ist nicht mehr Abgeordneter.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0616] Maßgebliches und Unmaßgebliches Auf einem Kieshaufen an der Chaussee sahen sie eine dunkle Gestalt sitzen. Kaum waren sie in ihre Nähe gekommen, da stürzte sie mit einem Aufschrei auf die drei zu. Es war Frau Henriette. schluchzend warf sie sich auf den Professor und schlang ihre Arme um seinen Hals, während die beiden Freunde den vor Wut und Scham zitternden Gelehrten rechts und links empor¬ hielten. ^ Wer zweifelt noch, daß unsre Freunde die Prüfung glänzend bestanden? Das Jahr brachte einen entzückenden Herbst. Karl Wichtel hatte seine Ferien angetreten und reiste, von seinem Freunde Fritz begleitet, nach der Schweiz, um sich seine Marguerite mich dem Weichselstrande zu holen. Auch Lammerts waren mit ihrer achtzehnjährigen, hübschen Elfe nach dem Genfer See gereist. Und dort, im Anblick der herrlichen Natur und im Verkehr mit dem glücklichen jungen Paar und dein lebenslustigen Doktor Flügger erkannte Frau Henriette, das; es in der Welt doch noch etwas schöneres gäbe, als den politischen Tagesrnhm, den roten Adlerorden und den Keheimratstitel. Maßgebliches und Unmaßgebliches Individualismus und Individualitäten. Der Individualismus in der Erziehung — so nennt sich die wissenschaftliche Beigabe des diesjährigen Weidmän¬ nischen Schnlkalenders, deren Verfasser mit ein paar hübschen Citaten aus Wilh. von Humboldt und Paulsen — zu spät leider! — für größere Freiheit im preußische» Gymnasialwesen eintritt. Der Hauptvertreter des Preußischen Kultusministers in der Dezemberkonferenz hatte eine solche Freiheit verheißen. Die vorwiegend kon¬ servativ gesinnte Konferenz jubelte dein begeistert zu. Die Grenzboten und andre Blätter nahmen den Gedanken lebhaft ans, während die Vertreter des Individua¬ lismus sich wohl mit Gleichberechtignngsfragen beschäftigten, hie und da auch einen Gemeinplatz vom Wert und von den Rechte» der Persönlichkeit einstreuten, jedoch um die Frage, wie Persönlichkeiten, wie Individualitäten entsteh» und gedeihn, sich herzlich wenig kümmerten. Reicht diese Wahrnehmung nicht allein schon aus, uns vor dem Gebrauch all dieser -ismusse zu warnen? Wo es gilt, verworrne Instinkte blöder Massen schnell auf el» Feldgeschrei zu vereine», da sind sie gut. Dem ernsthaften Manne, der in den Dingen lebt, der in stiller Arbeit zu einem Menschen, einem Wesen mit eignen Empfindungen, einer „Individualität" erwachsen ist, sind sie widerwärtig. Der leere Reichstag. Man klagt soviel über die Beschlußuufnhigkeit des Reichstags. Die einen sehen in dem Mangel an Tagegeldern den Grund dieser traurigen Erscheinung, die andern in der allgemeinen Mißstimmung. Vielleicht hülfe el« kleiner Zusatz zur Reichsverfassung- Wer dreimal ohne Erlaubnis fehlt, ist nicht mehr Abgeordneter. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/616>, abgerufen am 07.05.2024.