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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Laß nicht vom Linken dich umgarnen!

is jüngst die ersten Nachrichten über die Arbeiteruuruhen in
Berlin der Welt durch den Telegraphen übermittelt wurden,
entstand an der Hamburger Börse das Gerücht, daß diese Un¬
ruhen eine Folge der Rede seien, die der Kaiser kurz zuvor auf dem
brandenburgischen Provinziallandtage gehalten hatte, und dieses
Gerücht wurde zunächst alles Ernstes geglaubt! Dieser Vorgang spricht Bände.
So mangelhaft ist man in deu Kreisen des Bürgertums über die Stimmungen
und Gesinnungen der Arbeiter unterrichtet, daß man glauben konnte, die kaiser¬
liche Rede hätte auch bei ihnen den ungünstigen Eindruck gemacht, den sie in
weiten Kreisen des sogenannten "liberalen Bürgertums in Stadt und Land"
gemacht hatte.

Wie bodenlos unsinnig dieses Gerücht war, zeigte sich natürlich sofort.
Nicht der Person des Kaisers, der unangefochten und umringt von eiuer
jubelnden Menge durch die Straßen Berlins ritt, galt die aufrührerische Be¬
wegung, nicht zu Gunsten irgend ivelcher konstitutionellen Theorien fanden die De¬
monstrationen statt; nein, was jene Massen bewegte, was sie verlangten, das
war etwas viel praktischeres, viel greisbareres, viel realeres. Nicht ver¬
fassungsmäßige Garantien, Ministerverantwortlichkeit und Parlameutsherrschaft,
sondern Brot und Arbeit forderten sie; nicht gegen die vermeintlichen absolu¬
tistischen Neigungen eines von dein innigsten Mitgefühl für die Bedürftigen be¬
seelten Monarchen, sondern gegen ganz andre Mächte, gegen die Macht des
Reichtums und des Besitzes, richtete sich der revolutionäre Groll der Massen.

Die Zeiten, wo die große Masse des Volks eine rege Teilnahme
für das zeigte, was Herr von Bennigsen jüngst auf der Gedenkfeier der


Grenzboten I 1892 77


Laß nicht vom Linken dich umgarnen!

is jüngst die ersten Nachrichten über die Arbeiteruuruhen in
Berlin der Welt durch den Telegraphen übermittelt wurden,
entstand an der Hamburger Börse das Gerücht, daß diese Un¬
ruhen eine Folge der Rede seien, die der Kaiser kurz zuvor auf dem
brandenburgischen Provinziallandtage gehalten hatte, und dieses
Gerücht wurde zunächst alles Ernstes geglaubt! Dieser Vorgang spricht Bände.
So mangelhaft ist man in deu Kreisen des Bürgertums über die Stimmungen
und Gesinnungen der Arbeiter unterrichtet, daß man glauben konnte, die kaiser¬
liche Rede hätte auch bei ihnen den ungünstigen Eindruck gemacht, den sie in
weiten Kreisen des sogenannten „liberalen Bürgertums in Stadt und Land"
gemacht hatte.

Wie bodenlos unsinnig dieses Gerücht war, zeigte sich natürlich sofort.
Nicht der Person des Kaisers, der unangefochten und umringt von eiuer
jubelnden Menge durch die Straßen Berlins ritt, galt die aufrührerische Be¬
wegung, nicht zu Gunsten irgend ivelcher konstitutionellen Theorien fanden die De¬
monstrationen statt; nein, was jene Massen bewegte, was sie verlangten, das
war etwas viel praktischeres, viel greisbareres, viel realeres. Nicht ver¬
fassungsmäßige Garantien, Ministerverantwortlichkeit und Parlameutsherrschaft,
sondern Brot und Arbeit forderten sie; nicht gegen die vermeintlichen absolu¬
tistischen Neigungen eines von dein innigsten Mitgefühl für die Bedürftigen be¬
seelten Monarchen, sondern gegen ganz andre Mächte, gegen die Macht des
Reichtums und des Besitzes, richtete sich der revolutionäre Groll der Massen.

Die Zeiten, wo die große Masse des Volks eine rege Teilnahme
für das zeigte, was Herr von Bennigsen jüngst auf der Gedenkfeier der


Grenzboten I 1892 77
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[0617] [Abbildung] Laß nicht vom Linken dich umgarnen! is jüngst die ersten Nachrichten über die Arbeiteruuruhen in Berlin der Welt durch den Telegraphen übermittelt wurden, entstand an der Hamburger Börse das Gerücht, daß diese Un¬ ruhen eine Folge der Rede seien, die der Kaiser kurz zuvor auf dem brandenburgischen Provinziallandtage gehalten hatte, und dieses Gerücht wurde zunächst alles Ernstes geglaubt! Dieser Vorgang spricht Bände. So mangelhaft ist man in deu Kreisen des Bürgertums über die Stimmungen und Gesinnungen der Arbeiter unterrichtet, daß man glauben konnte, die kaiser¬ liche Rede hätte auch bei ihnen den ungünstigen Eindruck gemacht, den sie in weiten Kreisen des sogenannten „liberalen Bürgertums in Stadt und Land" gemacht hatte. Wie bodenlos unsinnig dieses Gerücht war, zeigte sich natürlich sofort. Nicht der Person des Kaisers, der unangefochten und umringt von eiuer jubelnden Menge durch die Straßen Berlins ritt, galt die aufrührerische Be¬ wegung, nicht zu Gunsten irgend ivelcher konstitutionellen Theorien fanden die De¬ monstrationen statt; nein, was jene Massen bewegte, was sie verlangten, das war etwas viel praktischeres, viel greisbareres, viel realeres. Nicht ver¬ fassungsmäßige Garantien, Ministerverantwortlichkeit und Parlameutsherrschaft, sondern Brot und Arbeit forderten sie; nicht gegen die vermeintlichen absolu¬ tistischen Neigungen eines von dein innigsten Mitgefühl für die Bedürftigen be¬ seelten Monarchen, sondern gegen ganz andre Mächte, gegen die Macht des Reichtums und des Besitzes, richtete sich der revolutionäre Groll der Massen. Die Zeiten, wo die große Masse des Volks eine rege Teilnahme für das zeigte, was Herr von Bennigsen jüngst auf der Gedenkfeier der Grenzboten I 1892 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/617>, abgerufen am 06.05.2024.