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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die Sonntagsruhe

is vor einem Jahrzehnt eine für die Provinz Sachsen bestimmte
Polizeiverordnnng die Sonntagsruhe etwa in der Weise regeln
wollte, wie es neuerdings durch die Novelle zur Gewerbeordnung
geschehn ist, erhob sich ein Sturm des Widerstandes und der
Entrüstung. Man zeterte über Vergewaltigung, über Schädigung
der "vitalsten (!) Interessen," über den Untergang der Industrie und über die
Rückkehr in die finstersten Zeiten des Mittelalters. Nun ist seit dem ersten
Juli eine Art Sonntagsruhe eingeführt, und alles ist ganz glatt und still
verlaufen. Daß das Publikum dabei zu Schaden gekommen sei, wird man
schwerlich behaupten können. Denn wenn es in den Verkaufsftunden des ersten
Sonntags im Juli einige Drängelei gab, wenn es sogar vorgekommen sein
soll, daß eine allzu vertrauensselige Hausfrau am Abend keine Cervelatwurst
bekommen konnte, so ist das gerade kein Unglück; vielmehr ist den betreffenden
ganz Recht geschehn. Die Sonntagsstille wird zngestandner- oder nicht zuge-
standnermaßen als Wohlthat empfunden. Und im Gründe gefällt die
Sonntagsruhe auch den Prinzipalen sehr wohl. Besonders empfinden
die kleinen Geschäftsleute die Wohlthat des Gesetzes dankbar. Es ist die
Befreiung aus eiuer Knechtschaft, in der sich die Menschen gegenseitig
hielten, und die härter war, als das härteste Gesetz. Der kleine Kaufmann,
der jahraus jahrein wie ein Ameisenlöwe in seiner Falle saß, kann nun
auch ein paar Stunden lang den blauen Himmel sehn und wenn auch nicht
deklamiren, so doch fühlen: Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein. Daß
die Angestellten, die Kommis und andre moderne Sklaven erreicht haben, was
sie seit Jahren dringlichst gewünscht haben, wird von ihnen dankbar anerkannt.
Selbst der jüdische Kaufmann läßt sich seinen christlichen Sonntag gefallen;


Grenzboten til 1892 43


Die Sonntagsruhe

is vor einem Jahrzehnt eine für die Provinz Sachsen bestimmte
Polizeiverordnnng die Sonntagsruhe etwa in der Weise regeln
wollte, wie es neuerdings durch die Novelle zur Gewerbeordnung
geschehn ist, erhob sich ein Sturm des Widerstandes und der
Entrüstung. Man zeterte über Vergewaltigung, über Schädigung
der „vitalsten (!) Interessen," über den Untergang der Industrie und über die
Rückkehr in die finstersten Zeiten des Mittelalters. Nun ist seit dem ersten
Juli eine Art Sonntagsruhe eingeführt, und alles ist ganz glatt und still
verlaufen. Daß das Publikum dabei zu Schaden gekommen sei, wird man
schwerlich behaupten können. Denn wenn es in den Verkaufsftunden des ersten
Sonntags im Juli einige Drängelei gab, wenn es sogar vorgekommen sein
soll, daß eine allzu vertrauensselige Hausfrau am Abend keine Cervelatwurst
bekommen konnte, so ist das gerade kein Unglück; vielmehr ist den betreffenden
ganz Recht geschehn. Die Sonntagsstille wird zngestandner- oder nicht zuge-
standnermaßen als Wohlthat empfunden. Und im Gründe gefällt die
Sonntagsruhe auch den Prinzipalen sehr wohl. Besonders empfinden
die kleinen Geschäftsleute die Wohlthat des Gesetzes dankbar. Es ist die
Befreiung aus eiuer Knechtschaft, in der sich die Menschen gegenseitig
hielten, und die härter war, als das härteste Gesetz. Der kleine Kaufmann,
der jahraus jahrein wie ein Ameisenlöwe in seiner Falle saß, kann nun
auch ein paar Stunden lang den blauen Himmel sehn und wenn auch nicht
deklamiren, so doch fühlen: Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein. Daß
die Angestellten, die Kommis und andre moderne Sklaven erreicht haben, was
sie seit Jahren dringlichst gewünscht haben, wird von ihnen dankbar anerkannt.
Selbst der jüdische Kaufmann läßt sich seinen christlichen Sonntag gefallen;


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[0345] [Abbildung] Die Sonntagsruhe is vor einem Jahrzehnt eine für die Provinz Sachsen bestimmte Polizeiverordnnng die Sonntagsruhe etwa in der Weise regeln wollte, wie es neuerdings durch die Novelle zur Gewerbeordnung geschehn ist, erhob sich ein Sturm des Widerstandes und der Entrüstung. Man zeterte über Vergewaltigung, über Schädigung der „vitalsten (!) Interessen," über den Untergang der Industrie und über die Rückkehr in die finstersten Zeiten des Mittelalters. Nun ist seit dem ersten Juli eine Art Sonntagsruhe eingeführt, und alles ist ganz glatt und still verlaufen. Daß das Publikum dabei zu Schaden gekommen sei, wird man schwerlich behaupten können. Denn wenn es in den Verkaufsftunden des ersten Sonntags im Juli einige Drängelei gab, wenn es sogar vorgekommen sein soll, daß eine allzu vertrauensselige Hausfrau am Abend keine Cervelatwurst bekommen konnte, so ist das gerade kein Unglück; vielmehr ist den betreffenden ganz Recht geschehn. Die Sonntagsstille wird zngestandner- oder nicht zuge- standnermaßen als Wohlthat empfunden. Und im Gründe gefällt die Sonntagsruhe auch den Prinzipalen sehr wohl. Besonders empfinden die kleinen Geschäftsleute die Wohlthat des Gesetzes dankbar. Es ist die Befreiung aus eiuer Knechtschaft, in der sich die Menschen gegenseitig hielten, und die härter war, als das härteste Gesetz. Der kleine Kaufmann, der jahraus jahrein wie ein Ameisenlöwe in seiner Falle saß, kann nun auch ein paar Stunden lang den blauen Himmel sehn und wenn auch nicht deklamiren, so doch fühlen: Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein. Daß die Angestellten, die Kommis und andre moderne Sklaven erreicht haben, was sie seit Jahren dringlichst gewünscht haben, wird von ihnen dankbar anerkannt. Selbst der jüdische Kaufmann läßt sich seinen christlichen Sonntag gefallen; Grenzboten til 1892 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/345>, abgerufen am 02.05.2024.