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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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wundes Lthik

in vielgelesenes linksliberales Blatt schrieb dieser Tage, die
Religion könne schon darum nicht die Wurzel der Sittlichkeit
sein, weil es der Religionen viele gebe, während die Sittlichkeit
nur eine sei. Merkwürdig! Die Zeitungen dieser Richtung
halten es doch für ihre Pflicht, sich jährlich wenigstens einmal
über die Jesuitenmoral zu ereifern. Und sie stehen doch auf gutem Fuße mit
den Darwinianern, die da behaupten, die Moral andre sich, gleich der Haut
und der Farbe, deu Freß- und Verdauungswerkzeugen, den Sinnesorganen
und Gliedmaßen der Tiere, im Laufe der Entwicklung beständig durch An¬
passung an die sich ändernde" Verhältnisse, lind den Professor Lombroso,
der alle Verbrechen für Wirkungen einer Gehirnkrankheit erklärt, die Moralität
also, die seelische Gesundheit mit der leiblichen sür eins hält, hat die Wissen¬
schaft doch auch noch nicht feierlich und förmlich mit dem Bann belegt. Endlich
gehören ja derselben Richtung auch die meisten Ethnologen an, die uns immer
und immer wieder ernähren, nur ja nicht die Sittlichkeit andrer Völker und
Zeiten mit unserm Maßstabe zu messen und es etwa ein Verbrechen zu neunen,
wenn der Südseeinsulaner aus purer Gottesfurcht gebratne Kinder frißt.

Daß die Moral eine selbständige, von der Religion unabhängige Seite
des Seelenlebens sei, wenn auch selbstverständlich alle Lebensäußerungen in
ihrem tiefsten Grunde mit einander zusammenhängen, und daß die einfachen
großen sittlichen Ideen immer und überall dieselben bleiben, haben wir oft
genug dargelegt. Aber wir haben auch nicht versäumt, zugleich darauf hin¬
zuweisen, daß uns der Verbindung dieser einfachen Elemente eine nicht
minder reiche Fülle verschiedner Lebensformen hervorgeht, wie ans dein Spiel
der chemischen Elemente, und in wie hohem Grade die verschiednen Glaubens-
meinungen dazu beitrage", der Moralität der Einzelnen, der Völker, der Zeit¬
alter verschiedne Gestalt und Farbe zu gebe". Der Idee nach ist die Moral
eine einzige, wie die Religion, die ja auch in allen ihren Gestalten und Ver¬
zweigungen der Hauptsache nach immer dasselbe bleibt: nämlich Glaube an
göttliche Wesen, Gottesfurcht und Gottesverehrung; aber in der Wirklichkeit
stellt sich jene nicht weniger verschieden dar als diese. Den Sittengesetzen aller
Kulturvölker liegen fünf von den zehn mosaischen Geboten (4 bis 8) zu Grunde.




wundes Lthik

in vielgelesenes linksliberales Blatt schrieb dieser Tage, die
Religion könne schon darum nicht die Wurzel der Sittlichkeit
sein, weil es der Religionen viele gebe, während die Sittlichkeit
nur eine sei. Merkwürdig! Die Zeitungen dieser Richtung
halten es doch für ihre Pflicht, sich jährlich wenigstens einmal
über die Jesuitenmoral zu ereifern. Und sie stehen doch auf gutem Fuße mit
den Darwinianern, die da behaupten, die Moral andre sich, gleich der Haut
und der Farbe, deu Freß- und Verdauungswerkzeugen, den Sinnesorganen
und Gliedmaßen der Tiere, im Laufe der Entwicklung beständig durch An¬
passung an die sich ändernde» Verhältnisse, lind den Professor Lombroso,
der alle Verbrechen für Wirkungen einer Gehirnkrankheit erklärt, die Moralität
also, die seelische Gesundheit mit der leiblichen sür eins hält, hat die Wissen¬
schaft doch auch noch nicht feierlich und förmlich mit dem Bann belegt. Endlich
gehören ja derselben Richtung auch die meisten Ethnologen an, die uns immer
und immer wieder ernähren, nur ja nicht die Sittlichkeit andrer Völker und
Zeiten mit unserm Maßstabe zu messen und es etwa ein Verbrechen zu neunen,
wenn der Südseeinsulaner aus purer Gottesfurcht gebratne Kinder frißt.

Daß die Moral eine selbständige, von der Religion unabhängige Seite
des Seelenlebens sei, wenn auch selbstverständlich alle Lebensäußerungen in
ihrem tiefsten Grunde mit einander zusammenhängen, und daß die einfachen
großen sittlichen Ideen immer und überall dieselben bleiben, haben wir oft
genug dargelegt. Aber wir haben auch nicht versäumt, zugleich darauf hin¬
zuweisen, daß uns der Verbindung dieser einfachen Elemente eine nicht
minder reiche Fülle verschiedner Lebensformen hervorgeht, wie ans dein Spiel
der chemischen Elemente, und in wie hohem Grade die verschiednen Glaubens-
meinungen dazu beitrage», der Moralität der Einzelnen, der Völker, der Zeit¬
alter verschiedne Gestalt und Farbe zu gebe». Der Idee nach ist die Moral
eine einzige, wie die Religion, die ja auch in allen ihren Gestalten und Ver¬
zweigungen der Hauptsache nach immer dasselbe bleibt: nämlich Glaube an
göttliche Wesen, Gottesfurcht und Gottesverehrung; aber in der Wirklichkeit
stellt sich jene nicht weniger verschieden dar als diese. Den Sittengesetzen aller
Kulturvölker liegen fünf von den zehn mosaischen Geboten (4 bis 8) zu Grunde.


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[0112] [Abbildung] wundes Lthik in vielgelesenes linksliberales Blatt schrieb dieser Tage, die Religion könne schon darum nicht die Wurzel der Sittlichkeit sein, weil es der Religionen viele gebe, während die Sittlichkeit nur eine sei. Merkwürdig! Die Zeitungen dieser Richtung halten es doch für ihre Pflicht, sich jährlich wenigstens einmal über die Jesuitenmoral zu ereifern. Und sie stehen doch auf gutem Fuße mit den Darwinianern, die da behaupten, die Moral andre sich, gleich der Haut und der Farbe, deu Freß- und Verdauungswerkzeugen, den Sinnesorganen und Gliedmaßen der Tiere, im Laufe der Entwicklung beständig durch An¬ passung an die sich ändernde» Verhältnisse, lind den Professor Lombroso, der alle Verbrechen für Wirkungen einer Gehirnkrankheit erklärt, die Moralität also, die seelische Gesundheit mit der leiblichen sür eins hält, hat die Wissen¬ schaft doch auch noch nicht feierlich und förmlich mit dem Bann belegt. Endlich gehören ja derselben Richtung auch die meisten Ethnologen an, die uns immer und immer wieder ernähren, nur ja nicht die Sittlichkeit andrer Völker und Zeiten mit unserm Maßstabe zu messen und es etwa ein Verbrechen zu neunen, wenn der Südseeinsulaner aus purer Gottesfurcht gebratne Kinder frißt. Daß die Moral eine selbständige, von der Religion unabhängige Seite des Seelenlebens sei, wenn auch selbstverständlich alle Lebensäußerungen in ihrem tiefsten Grunde mit einander zusammenhängen, und daß die einfachen großen sittlichen Ideen immer und überall dieselben bleiben, haben wir oft genug dargelegt. Aber wir haben auch nicht versäumt, zugleich darauf hin¬ zuweisen, daß uns der Verbindung dieser einfachen Elemente eine nicht minder reiche Fülle verschiedner Lebensformen hervorgeht, wie ans dein Spiel der chemischen Elemente, und in wie hohem Grade die verschiednen Glaubens- meinungen dazu beitrage», der Moralität der Einzelnen, der Völker, der Zeit¬ alter verschiedne Gestalt und Farbe zu gebe». Der Idee nach ist die Moral eine einzige, wie die Religion, die ja auch in allen ihren Gestalten und Ver¬ zweigungen der Hauptsache nach immer dasselbe bleibt: nämlich Glaube an göttliche Wesen, Gottesfurcht und Gottesverehrung; aber in der Wirklichkeit stellt sich jene nicht weniger verschieden dar als diese. Den Sittengesetzen aller Kulturvölker liegen fünf von den zehn mosaischen Geboten (4 bis 8) zu Grunde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/112>, abgerufen am 27.04.2024.