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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Weder Kommunismus noch Kapitalismus
i

cum es im Hause an Geld zu fehlen anfängt, so Pflegen Mann
und Frau zunächst übler Laune zu werden und einander gegen¬
seitig mit Vorwürfen zu überhäufen. Zuweilen sind die Vor¬
würfe nach der einen oder der andern oder nach beiden Seiten
hin begründet, zuweilen rührt auch die Not von äußern Ver¬
hältnissen her, für die keins von beiden kann.

Sämtliche europäische Völker, nur Frankreich vielleicht ausgenommen,
gehen augenscheinlich ihrem Bankerott entgegen. Daher ist zur Zeit jedes
Glied jedes Volkshaushalts mit Erbitterung gegen alle andern Glieder erfüllt,
und mit der steigenden Not wird diese Erbitterung steigen. Was in diesem
Falle die Schuld anlangt, so liegt sie teils an Fehlern, die von den herrschenden
Klaffen als Wirtschaftsleitern begangen worden sind und noch täglich be¬
gangen werden, teils an natürlichen Verhältniffen, für deren Entstehung die
herrschenden Klassen nichts können, die aber, sobald sie erkannt werden, nicht
mehr unabänderlich sind. Daß man sie sowie die begangnen Fehler erkenne,
ist die selbstverständliche Voraussetzung der Besserung.

Nicht wenige denkende Männer haben beides erkannt und sind daran,
diese Erkenntnis zu verbreiten. Wenn nun ein Mann aufsteht, der mit
einem großartigen wissenschaftlichen Rüstzeuge und in packender populärer
Sprache den Scheinbeweis führt, daß unsre Verarmung nur ein Schreckgespenst
der Einbildungskraft sei, daß wir Heutigen reicher seien als alle unsre Vor¬
fahren, und daß keine Fehler gemacht worden seien, so thut er damit etwas
im höchsten Grade verderbliches; sollte er Erfolg haben, so würde er ein Werk¬
zeug des Gottes gewesen sein, der da verblendet, die er verderben will. Pro¬
fessor Julius Wolf in Zürich hat dieses verhängnisvolle unternommen in
dem ersten Bande seines bei Cotta in Stuttgart erscheinenden Systems der
Sozialpolitik, den er betitelt: Sozialismus und kapitalistische Ge¬
sellschaftsordnung; kritische Würdigung beider als Grundlegung einer
Sozialpolitik. Aus dem Buche spricht ein liebenswürdiger, edler und dabei
klarer Geist; aber ins Studirzimmer eingeschlossen und dem wirklichen Leben




Weder Kommunismus noch Kapitalismus
i

cum es im Hause an Geld zu fehlen anfängt, so Pflegen Mann
und Frau zunächst übler Laune zu werden und einander gegen¬
seitig mit Vorwürfen zu überhäufen. Zuweilen sind die Vor¬
würfe nach der einen oder der andern oder nach beiden Seiten
hin begründet, zuweilen rührt auch die Not von äußern Ver¬
hältnissen her, für die keins von beiden kann.

Sämtliche europäische Völker, nur Frankreich vielleicht ausgenommen,
gehen augenscheinlich ihrem Bankerott entgegen. Daher ist zur Zeit jedes
Glied jedes Volkshaushalts mit Erbitterung gegen alle andern Glieder erfüllt,
und mit der steigenden Not wird diese Erbitterung steigen. Was in diesem
Falle die Schuld anlangt, so liegt sie teils an Fehlern, die von den herrschenden
Klaffen als Wirtschaftsleitern begangen worden sind und noch täglich be¬
gangen werden, teils an natürlichen Verhältniffen, für deren Entstehung die
herrschenden Klassen nichts können, die aber, sobald sie erkannt werden, nicht
mehr unabänderlich sind. Daß man sie sowie die begangnen Fehler erkenne,
ist die selbstverständliche Voraussetzung der Besserung.

Nicht wenige denkende Männer haben beides erkannt und sind daran,
diese Erkenntnis zu verbreiten. Wenn nun ein Mann aufsteht, der mit
einem großartigen wissenschaftlichen Rüstzeuge und in packender populärer
Sprache den Scheinbeweis führt, daß unsre Verarmung nur ein Schreckgespenst
der Einbildungskraft sei, daß wir Heutigen reicher seien als alle unsre Vor¬
fahren, und daß keine Fehler gemacht worden seien, so thut er damit etwas
im höchsten Grade verderbliches; sollte er Erfolg haben, so würde er ein Werk¬
zeug des Gottes gewesen sein, der da verblendet, die er verderben will. Pro¬
fessor Julius Wolf in Zürich hat dieses verhängnisvolle unternommen in
dem ersten Bande seines bei Cotta in Stuttgart erscheinenden Systems der
Sozialpolitik, den er betitelt: Sozialismus und kapitalistische Ge¬
sellschaftsordnung; kritische Würdigung beider als Grundlegung einer
Sozialpolitik. Aus dem Buche spricht ein liebenswürdiger, edler und dabei
klarer Geist; aber ins Studirzimmer eingeschlossen und dem wirklichen Leben


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[0163] [Abbildung] Weder Kommunismus noch Kapitalismus i cum es im Hause an Geld zu fehlen anfängt, so Pflegen Mann und Frau zunächst übler Laune zu werden und einander gegen¬ seitig mit Vorwürfen zu überhäufen. Zuweilen sind die Vor¬ würfe nach der einen oder der andern oder nach beiden Seiten hin begründet, zuweilen rührt auch die Not von äußern Ver¬ hältnissen her, für die keins von beiden kann. Sämtliche europäische Völker, nur Frankreich vielleicht ausgenommen, gehen augenscheinlich ihrem Bankerott entgegen. Daher ist zur Zeit jedes Glied jedes Volkshaushalts mit Erbitterung gegen alle andern Glieder erfüllt, und mit der steigenden Not wird diese Erbitterung steigen. Was in diesem Falle die Schuld anlangt, so liegt sie teils an Fehlern, die von den herrschenden Klaffen als Wirtschaftsleitern begangen worden sind und noch täglich be¬ gangen werden, teils an natürlichen Verhältniffen, für deren Entstehung die herrschenden Klassen nichts können, die aber, sobald sie erkannt werden, nicht mehr unabänderlich sind. Daß man sie sowie die begangnen Fehler erkenne, ist die selbstverständliche Voraussetzung der Besserung. Nicht wenige denkende Männer haben beides erkannt und sind daran, diese Erkenntnis zu verbreiten. Wenn nun ein Mann aufsteht, der mit einem großartigen wissenschaftlichen Rüstzeuge und in packender populärer Sprache den Scheinbeweis führt, daß unsre Verarmung nur ein Schreckgespenst der Einbildungskraft sei, daß wir Heutigen reicher seien als alle unsre Vor¬ fahren, und daß keine Fehler gemacht worden seien, so thut er damit etwas im höchsten Grade verderbliches; sollte er Erfolg haben, so würde er ein Werk¬ zeug des Gottes gewesen sein, der da verblendet, die er verderben will. Pro¬ fessor Julius Wolf in Zürich hat dieses verhängnisvolle unternommen in dem ersten Bande seines bei Cotta in Stuttgart erscheinenden Systems der Sozialpolitik, den er betitelt: Sozialismus und kapitalistische Ge¬ sellschaftsordnung; kritische Würdigung beider als Grundlegung einer Sozialpolitik. Aus dem Buche spricht ein liebenswürdiger, edler und dabei klarer Geist; aber ins Studirzimmer eingeschlossen und dem wirklichen Leben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/163>, abgerufen am 27.04.2024.