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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche Aolonialpolitik und die öffentliche Meinung

Das Verhältnis der Parteien zur Regierung, ihre Bedeutung und dem¬
gemäß auch ihre Verpflichtungen sind seit Bismarcks Rücktritt ganz andre
geworden. Solange ein Mann an der Spitze des Staates stand, dessen geistige
Überlegenheit von allen, von den einen freudig, von den andern widerwillig,
anerkannt wurde, sahen sich die Parteien ans die bequeme Aufgabe beschränkt,
die Anregungen dieses Mannes abzuwarten, seine Vorschläge zu prüfen und
je nach ihrem Standpunkte zu verwerfen oder zu billigen. Heute, wo die
Intelligenz innerhalb der Parteien mit der Intelligenz innerhalb der Re¬
gierung den Wettbewerb aufnehmen kann, müssen die Parteien bemüht sein,
das politische Leben durch eigne und selbständige Gedanken zu befruchten.
Es hat freilich den Anschein, als ob sie sich sehr schwer in ihre neue
Lage funden, und wenn man von Bismarcks Sturz wenigstens etwas Gutes,
nämlich eine Besserung der Parteiverhältnisse, er wartet hat, so hat sich auch
diese Hoffnung bis jetzt so sehr als Täuschung erwiesen, daß die Verwirrung
eher noch zu- als abgenommen hat.




Die deutsche Kolonialpolitik und die Öffentliche Meinung

s wird zuweilen bestritten, daß es eine öffentliche Meinung gebe,
obwohl doch von ihr und ihrem Einfluß so viel die Rede ist:
wie soll ein Ding einen Einfluß ausüben können, das gar nicht
vorhanden ist? Aber schon darum, weil sie allgemein in gutem
Glauben als vorhanden vorausgesetzt wird, weil sie so oft als
etwas wirkliches genannt wird, muß man schließen: "zr^o sse, und thut Un¬
recht, ihr Bestehen zu verneinen. Es geschieht allerdings nicht ohne Grund,
wenn sich manche versucht fühlen, der öffentlichen Meinung das Dasein abzu¬
sprechen. Ihr Wesen hat etwas unklares, unsicheres und unfaßbares, sie
zeigt sich in keiner konkreten Erscheinungsform, die man nach Ort, Zeit und
Thätigkeit genau bestimmen könnte, sie ist überall und nirgends, sie zieht Er¬
eignisse und Personen vor ihr Forum, das "Forum der öffentlichen Meinung,"
aber niemand weiß ihren Gerichtsstand anzugeben. Wie aber die Willens-
beftimmung jedes einzelnen nach dieser oder jener Richtung beeinflußt wird,
ohne daß er die Einwirkungen, denen er unterliegt, immer zergliedern und
nachzählen kann, so erleidet auch der Wille eiues Volkes, einer Nation, einer
Gesamtheit, die ebenfalls gewissermaßen eine Individualität, eine Persönlichkeit
mit Gedanken und Wünschen, Absichten und Zielen bildet, manche Einwirkungen,
deren Verlauf sich nicht genau von der Quelle bis zur Mündung nachweisen


Die deutsche Aolonialpolitik und die öffentliche Meinung

Das Verhältnis der Parteien zur Regierung, ihre Bedeutung und dem¬
gemäß auch ihre Verpflichtungen sind seit Bismarcks Rücktritt ganz andre
geworden. Solange ein Mann an der Spitze des Staates stand, dessen geistige
Überlegenheit von allen, von den einen freudig, von den andern widerwillig,
anerkannt wurde, sahen sich die Parteien ans die bequeme Aufgabe beschränkt,
die Anregungen dieses Mannes abzuwarten, seine Vorschläge zu prüfen und
je nach ihrem Standpunkte zu verwerfen oder zu billigen. Heute, wo die
Intelligenz innerhalb der Parteien mit der Intelligenz innerhalb der Re¬
gierung den Wettbewerb aufnehmen kann, müssen die Parteien bemüht sein,
das politische Leben durch eigne und selbständige Gedanken zu befruchten.
Es hat freilich den Anschein, als ob sie sich sehr schwer in ihre neue
Lage funden, und wenn man von Bismarcks Sturz wenigstens etwas Gutes,
nämlich eine Besserung der Parteiverhältnisse, er wartet hat, so hat sich auch
diese Hoffnung bis jetzt so sehr als Täuschung erwiesen, daß die Verwirrung
eher noch zu- als abgenommen hat.




Die deutsche Kolonialpolitik und die Öffentliche Meinung

s wird zuweilen bestritten, daß es eine öffentliche Meinung gebe,
obwohl doch von ihr und ihrem Einfluß so viel die Rede ist:
wie soll ein Ding einen Einfluß ausüben können, das gar nicht
vorhanden ist? Aber schon darum, weil sie allgemein in gutem
Glauben als vorhanden vorausgesetzt wird, weil sie so oft als
etwas wirkliches genannt wird, muß man schließen: «zr^o sse, und thut Un¬
recht, ihr Bestehen zu verneinen. Es geschieht allerdings nicht ohne Grund,
wenn sich manche versucht fühlen, der öffentlichen Meinung das Dasein abzu¬
sprechen. Ihr Wesen hat etwas unklares, unsicheres und unfaßbares, sie
zeigt sich in keiner konkreten Erscheinungsform, die man nach Ort, Zeit und
Thätigkeit genau bestimmen könnte, sie ist überall und nirgends, sie zieht Er¬
eignisse und Personen vor ihr Forum, das „Forum der öffentlichen Meinung,"
aber niemand weiß ihren Gerichtsstand anzugeben. Wie aber die Willens-
beftimmung jedes einzelnen nach dieser oder jener Richtung beeinflußt wird,
ohne daß er die Einwirkungen, denen er unterliegt, immer zergliedern und
nachzählen kann, so erleidet auch der Wille eiues Volkes, einer Nation, einer
Gesamtheit, die ebenfalls gewissermaßen eine Individualität, eine Persönlichkeit
mit Gedanken und Wünschen, Absichten und Zielen bildet, manche Einwirkungen,
deren Verlauf sich nicht genau von der Quelle bis zur Mündung nachweisen


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[0205] Die deutsche Aolonialpolitik und die öffentliche Meinung Das Verhältnis der Parteien zur Regierung, ihre Bedeutung und dem¬ gemäß auch ihre Verpflichtungen sind seit Bismarcks Rücktritt ganz andre geworden. Solange ein Mann an der Spitze des Staates stand, dessen geistige Überlegenheit von allen, von den einen freudig, von den andern widerwillig, anerkannt wurde, sahen sich die Parteien ans die bequeme Aufgabe beschränkt, die Anregungen dieses Mannes abzuwarten, seine Vorschläge zu prüfen und je nach ihrem Standpunkte zu verwerfen oder zu billigen. Heute, wo die Intelligenz innerhalb der Parteien mit der Intelligenz innerhalb der Re¬ gierung den Wettbewerb aufnehmen kann, müssen die Parteien bemüht sein, das politische Leben durch eigne und selbständige Gedanken zu befruchten. Es hat freilich den Anschein, als ob sie sich sehr schwer in ihre neue Lage funden, und wenn man von Bismarcks Sturz wenigstens etwas Gutes, nämlich eine Besserung der Parteiverhältnisse, er wartet hat, so hat sich auch diese Hoffnung bis jetzt so sehr als Täuschung erwiesen, daß die Verwirrung eher noch zu- als abgenommen hat. Die deutsche Kolonialpolitik und die Öffentliche Meinung s wird zuweilen bestritten, daß es eine öffentliche Meinung gebe, obwohl doch von ihr und ihrem Einfluß so viel die Rede ist: wie soll ein Ding einen Einfluß ausüben können, das gar nicht vorhanden ist? Aber schon darum, weil sie allgemein in gutem Glauben als vorhanden vorausgesetzt wird, weil sie so oft als etwas wirkliches genannt wird, muß man schließen: «zr^o sse, und thut Un¬ recht, ihr Bestehen zu verneinen. Es geschieht allerdings nicht ohne Grund, wenn sich manche versucht fühlen, der öffentlichen Meinung das Dasein abzu¬ sprechen. Ihr Wesen hat etwas unklares, unsicheres und unfaßbares, sie zeigt sich in keiner konkreten Erscheinungsform, die man nach Ort, Zeit und Thätigkeit genau bestimmen könnte, sie ist überall und nirgends, sie zieht Er¬ eignisse und Personen vor ihr Forum, das „Forum der öffentlichen Meinung," aber niemand weiß ihren Gerichtsstand anzugeben. Wie aber die Willens- beftimmung jedes einzelnen nach dieser oder jener Richtung beeinflußt wird, ohne daß er die Einwirkungen, denen er unterliegt, immer zergliedern und nachzählen kann, so erleidet auch der Wille eiues Volkes, einer Nation, einer Gesamtheit, die ebenfalls gewissermaßen eine Individualität, eine Persönlichkeit mit Gedanken und Wünschen, Absichten und Zielen bildet, manche Einwirkungen, deren Verlauf sich nicht genau von der Quelle bis zur Mündung nachweisen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/205>, abgerufen am 27.04.2024.