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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie vom Übermenschen
Von Rudolf Buddensieg

WSWle Aufgabe unsrer Zeit ist die Lösung der sozialen Frage. Sie
beherrscht wie keine andre das Denken und Empfinden der
Völker, denn sie ist nicht an die deutschen Grenzen gebunden.
Es geht ein eifriges Bemühen durch die Welt, sie aus der Welt
zu schaffen. Auf der ganzen Linie, oben und unten, bei Re¬
gierenden und Beherrschten, in den Hörsälen der Professoren wie in den
Fabriksälen der Arbeiter, überall regen sich die Geister, die vielverschluugnen
Füdeu des Gesellschaftprvblems zu entwirren. Täglich sehen wir, daß die
großen Fragen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die vor hundert
Jahren auf französischem Boden nach Verwirklichung rangen, in neue Form
gefaßt, auch am Ende unsers Jahrhunderts den Volksgeist beherrschen. Aber
die Frage macht sich zur Zeit mit einer Schärfe geltend, die der alten und
mittlern Zeit fremd gewesen ist. Organisation der allgemeinen Volkskraft,
das ist das Ziel, dem die Vorkämpfer der neuen Gesellschaftsordnung zustreben.
Lawinenartig ist die Bewegung gewachsen; sie hat in die Wissenschaft, in die
Politik, in die Gesetzgebung, selbst in die Kabinette der Fürsten ihren Einzug
gehalten und droht, nachdem sie den aus den Trümmern der französischen Revo¬
lution schließlich aufgestiegnen Individualismus siegreich überwunden haben wird,
die alten Gesellschaftsordnungen in Stücke zu zerbrechen. Die Bahnen einer
ruhige" Entwicklung, das liegt vor aller Augen, sind verlassen; das Gefühl,
daß gewaltige Erscheinungen bevorstehen, ist beinahe allgemein. Die Bewegung
hat eben aus den Schwächen und Fehlern des Individualismus ihre Kraft
gewonnen. Das Bemühen, den Einzelmenschen von allen Beschränkungen der
Gesellschaft zu befreien, ihn auf sich selbst zu stellen und der Entfaltung seiner
Kräfte und seiner Interessen Bahn zu mache", befreite zwar das Individuum
vou den Fesseln der überlebte" sozialen und staatlichen Lebensformen, machte
das Wohl des einzelnen zur Richtschnur im politischen, wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Leben und führte durch die Befreiung und Stärkung der
Einzelkraft zu großen Fortschritten auf allen Arbeitsgebieten; aber die Über¬
treibung lief andrerseits auch auf eine Vergewaltigung der Gesellschaft hinaus,
zerriß die sozialen Zusammenhänge des Volks und legte vor aller Augen die




Die Philosophie vom Übermenschen
Von Rudolf Buddensieg

WSWle Aufgabe unsrer Zeit ist die Lösung der sozialen Frage. Sie
beherrscht wie keine andre das Denken und Empfinden der
Völker, denn sie ist nicht an die deutschen Grenzen gebunden.
Es geht ein eifriges Bemühen durch die Welt, sie aus der Welt
zu schaffen. Auf der ganzen Linie, oben und unten, bei Re¬
gierenden und Beherrschten, in den Hörsälen der Professoren wie in den
Fabriksälen der Arbeiter, überall regen sich die Geister, die vielverschluugnen
Füdeu des Gesellschaftprvblems zu entwirren. Täglich sehen wir, daß die
großen Fragen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die vor hundert
Jahren auf französischem Boden nach Verwirklichung rangen, in neue Form
gefaßt, auch am Ende unsers Jahrhunderts den Volksgeist beherrschen. Aber
die Frage macht sich zur Zeit mit einer Schärfe geltend, die der alten und
mittlern Zeit fremd gewesen ist. Organisation der allgemeinen Volkskraft,
das ist das Ziel, dem die Vorkämpfer der neuen Gesellschaftsordnung zustreben.
Lawinenartig ist die Bewegung gewachsen; sie hat in die Wissenschaft, in die
Politik, in die Gesetzgebung, selbst in die Kabinette der Fürsten ihren Einzug
gehalten und droht, nachdem sie den aus den Trümmern der französischen Revo¬
lution schließlich aufgestiegnen Individualismus siegreich überwunden haben wird,
die alten Gesellschaftsordnungen in Stücke zu zerbrechen. Die Bahnen einer
ruhige» Entwicklung, das liegt vor aller Augen, sind verlassen; das Gefühl,
daß gewaltige Erscheinungen bevorstehen, ist beinahe allgemein. Die Bewegung
hat eben aus den Schwächen und Fehlern des Individualismus ihre Kraft
gewonnen. Das Bemühen, den Einzelmenschen von allen Beschränkungen der
Gesellschaft zu befreien, ihn auf sich selbst zu stellen und der Entfaltung seiner
Kräfte und seiner Interessen Bahn zu mache», befreite zwar das Individuum
vou den Fesseln der überlebte» sozialen und staatlichen Lebensformen, machte
das Wohl des einzelnen zur Richtschnur im politischen, wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Leben und führte durch die Befreiung und Stärkung der
Einzelkraft zu großen Fortschritten auf allen Arbeitsgebieten; aber die Über¬
treibung lief andrerseits auch auf eine Vergewaltigung der Gesellschaft hinaus,
zerriß die sozialen Zusammenhänge des Volks und legte vor aller Augen die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/30>, abgerufen am 27.04.2024.