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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Verunstaltung deutscher Lieder

rad um Kopfe herum, werden sie weniges erhalten, aber dieses wenige wird
vertieft werden, es wird kräftige Kost sein, die den Geist gesund und stark
macht und nicht, wie der bisherige bunte Wechsel des Oberflächlichen, abge¬
spannt, zerstreut, zerfahren.




Die Verunstaltung deutscher Lieder

or etwa einem Jahre wurde in diesen Blättern kurz auf eine"
Unfug aufmerksam gemacht, der seit längerer Zeit ungerügt und
ungestraft gerade mit den schönsten und tiefsten deutschen Liedern
in deutschen Lesebüchern und Gesangheften getrieben wird. Be¬
sonders Eichendorffs herrliches Lied "In einem kühlen Grunde,"
das seines melancholischen Klanges wegen zusammen mit Heines Lorelei sich
vielleicht der größten Beliebtheit und der weitesten Verbreitung erfreut, hat
eine superkluge Pädagogik in der Volksschule dadurch ganz entstellt, daß es
in der ersten Strophe statt des bedenklichen Liebchens einen würdigen Onkel
gesetzt hat (woraus denn in Mädchenschulen eine ehrsame Tante werden muß).
Man wird über diese tolle Verballhvrnung wie über einen Thorenscherz der
Fliegenden Blätter zunächst gelächelt haben; allein die Sache hat doch als
ein Anzeichen ihre sehr ernste Bedeutung, zumal da sich ähnliche Beispiele
überall und sogar in den besten Lesebüchern finden.

Wer hat nicht Geibels frisches Mai- und Marschlied "Der Mai ist ge¬
kommen" nicht nur im Mai, sondern auch in Sommermvnden, nicht nur in
seinen Knabenjahren, sondern auch in fröhlicher Studentenzeit mit Heller Be¬
geisterung gesungen? wohlgemerkt ganz gesungen, alle sechs Strophen. Wohl
uns, denen das Lied unverkürzt übermittelt wurde! Dem heranwachsenden
Geschlecht verabreicht der Gesanglehrer auf Grund der eingeführten Liederhefte
meist nur die erste, dritte und sechste Strophe. Wahrscheinlich ist es nämlich
in der zweiten anstößig, daß es so manchen Wein giebt, den man noch nicht
probirt hat, ein Versäumnis, das am Ende der Junge schwer empfinden und
durch regen K'ueipenbesuch gut zu machen bestrebt sein könnte. Ebenso klar
ist es, daß es sich für einen Schüler nicht schickt, gleich dem leichtsinnigen
Dichter in der vierten Strophe abends im Städtlein eine Kanne blanken
Wein zu verlangen oder gar den Spielmann zu einem Liebet von seinem Schatz
aufzufordern. Warum ihn aber gar in der Frühe, nachdem er allerdings
vagabundenhaft unter freiem Himmel genächtigt hat, das harmlose Morgenrot


Die Verunstaltung deutscher Lieder

rad um Kopfe herum, werden sie weniges erhalten, aber dieses wenige wird
vertieft werden, es wird kräftige Kost sein, die den Geist gesund und stark
macht und nicht, wie der bisherige bunte Wechsel des Oberflächlichen, abge¬
spannt, zerstreut, zerfahren.




Die Verunstaltung deutscher Lieder

or etwa einem Jahre wurde in diesen Blättern kurz auf eine»
Unfug aufmerksam gemacht, der seit längerer Zeit ungerügt und
ungestraft gerade mit den schönsten und tiefsten deutschen Liedern
in deutschen Lesebüchern und Gesangheften getrieben wird. Be¬
sonders Eichendorffs herrliches Lied „In einem kühlen Grunde,"
das seines melancholischen Klanges wegen zusammen mit Heines Lorelei sich
vielleicht der größten Beliebtheit und der weitesten Verbreitung erfreut, hat
eine superkluge Pädagogik in der Volksschule dadurch ganz entstellt, daß es
in der ersten Strophe statt des bedenklichen Liebchens einen würdigen Onkel
gesetzt hat (woraus denn in Mädchenschulen eine ehrsame Tante werden muß).
Man wird über diese tolle Verballhvrnung wie über einen Thorenscherz der
Fliegenden Blätter zunächst gelächelt haben; allein die Sache hat doch als
ein Anzeichen ihre sehr ernste Bedeutung, zumal da sich ähnliche Beispiele
überall und sogar in den besten Lesebüchern finden.

Wer hat nicht Geibels frisches Mai- und Marschlied „Der Mai ist ge¬
kommen" nicht nur im Mai, sondern auch in Sommermvnden, nicht nur in
seinen Knabenjahren, sondern auch in fröhlicher Studentenzeit mit Heller Be¬
geisterung gesungen? wohlgemerkt ganz gesungen, alle sechs Strophen. Wohl
uns, denen das Lied unverkürzt übermittelt wurde! Dem heranwachsenden
Geschlecht verabreicht der Gesanglehrer auf Grund der eingeführten Liederhefte
meist nur die erste, dritte und sechste Strophe. Wahrscheinlich ist es nämlich
in der zweiten anstößig, daß es so manchen Wein giebt, den man noch nicht
probirt hat, ein Versäumnis, das am Ende der Junge schwer empfinden und
durch regen K'ueipenbesuch gut zu machen bestrebt sein könnte. Ebenso klar
ist es, daß es sich für einen Schüler nicht schickt, gleich dem leichtsinnigen
Dichter in der vierten Strophe abends im Städtlein eine Kanne blanken
Wein zu verlangen oder gar den Spielmann zu einem Liebet von seinem Schatz
aufzufordern. Warum ihn aber gar in der Frühe, nachdem er allerdings
vagabundenhaft unter freiem Himmel genächtigt hat, das harmlose Morgenrot


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/324>, abgerufen am 27.04.2024.