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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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offen zu bekennen, daß die den Steuerrollen entnommenen Zahlen auf die
Lage der gewöhnlich sogenannten Arbeiterklasse überhaupt kein Licht werfen,
sondern nur die Befestigung und das Wachstum eiues Mittelstandes beweisen,
der, erlauben wir uns hinzuzufügen, denn doch noch lange nicht ansehnlich
genug ist, zu imponiren. Die Zahl der Einkommensteuerpflichtigen, d. h. der
Personen, die 150 Pfund 3000 Mark und darüber einnehmen, ist nämlich
in den Jahren 1843 bis 1880 von 100637 auf 320162 gestiegen. Es ge¬
hörten also, wenn man jede" Steuerpflichtigen als Haupt einer fünfköpfigen Familie
rechnet, im Jahre 1880 nur etwa 1600000 Menschen jener Einkommenklasse
an, in der das menschenwürdige Leben erst anfängt. Also kaum ein Zwan¬
zigstel des reichsten Volkes der Erde besteht ans Menschen, die andern neun¬
zehn Zwanzigstel sind Bettler, Lumpen und Sklaven. Denn es giebt zwar
genug Gegenden auf Erden, wo man auch mit weniger als 3000 Mark als
Mensch leben kann, aber England gehört nicht dazu.

Was dann noch über die stetig wachsenden") Sparkasseneinlage" und das
Vermögen der zahlreichen Genossenschaften und Gewerkvereine gesagt wird,
kann um unserm Ergebnisse nichts mehr ändern. Dieses Ergebnis, das später
noch weiter begründet werden wird, lautet: seit 1850 hat sich ein neuer Mittel¬
stand gebildet, dem auch die oberste Schicht der Arbeiter angehört; eine weitere
Schicht hat sich aus dem schmutzigen Elend zu einigermaßen menschenwürdigen
Zuständen emporgerungen; aber die unterste Schicht, die mehr als den dritten
Teil des Volks ausmachen dürfte, ringt noch vergebens oder verkommt, ohne
zu ringen. Die Statistik der Almosenempfänger, Arbeitslosen und Verbrecher,
sowie die Statistik der Volksvermehrung und der Sterblichkeit werden wir in
einem andern Zusammenhange erörtern.




Erinnerungen an Lothar Bucher
von Bruno Bucher 1

le Aufforderung, für die Grenzboten einen Aufsatz über meinen
Bruder Lothar zu liefern, hat mich in einige Verlegenheit ge¬
bracht. Wie es scheint, ist in der gesamten Presse Europas mit
Ausnahme des Deutschen Reichsanzeigers sein Lebensgang skizzirt
und seine Bedeutung für die Geschichte der letzten Jahrzehnte ge¬
würdigt worden, und auch jenseits des Ozeans hat man seinen Tod als ein



Nämlich die bis 1"9(> siclig wachsenden; die letzten beiden Jahre, mit denen die neueste
Periode einer arosien, ganz Europa bedrückenden Depression beginnt, hat Wolf in seine Be-

offen zu bekennen, daß die den Steuerrollen entnommenen Zahlen auf die
Lage der gewöhnlich sogenannten Arbeiterklasse überhaupt kein Licht werfen,
sondern nur die Befestigung und das Wachstum eiues Mittelstandes beweisen,
der, erlauben wir uns hinzuzufügen, denn doch noch lange nicht ansehnlich
genug ist, zu imponiren. Die Zahl der Einkommensteuerpflichtigen, d. h. der
Personen, die 150 Pfund 3000 Mark und darüber einnehmen, ist nämlich
in den Jahren 1843 bis 1880 von 100637 auf 320162 gestiegen. Es ge¬
hörten also, wenn man jede» Steuerpflichtigen als Haupt einer fünfköpfigen Familie
rechnet, im Jahre 1880 nur etwa 1600000 Menschen jener Einkommenklasse
an, in der das menschenwürdige Leben erst anfängt. Also kaum ein Zwan¬
zigstel des reichsten Volkes der Erde besteht ans Menschen, die andern neun¬
zehn Zwanzigstel sind Bettler, Lumpen und Sklaven. Denn es giebt zwar
genug Gegenden auf Erden, wo man auch mit weniger als 3000 Mark als
Mensch leben kann, aber England gehört nicht dazu.

Was dann noch über die stetig wachsenden") Sparkasseneinlage» und das
Vermögen der zahlreichen Genossenschaften und Gewerkvereine gesagt wird,
kann um unserm Ergebnisse nichts mehr ändern. Dieses Ergebnis, das später
noch weiter begründet werden wird, lautet: seit 1850 hat sich ein neuer Mittel¬
stand gebildet, dem auch die oberste Schicht der Arbeiter angehört; eine weitere
Schicht hat sich aus dem schmutzigen Elend zu einigermaßen menschenwürdigen
Zuständen emporgerungen; aber die unterste Schicht, die mehr als den dritten
Teil des Volks ausmachen dürfte, ringt noch vergebens oder verkommt, ohne
zu ringen. Die Statistik der Almosenempfänger, Arbeitslosen und Verbrecher,
sowie die Statistik der Volksvermehrung und der Sterblichkeit werden wir in
einem andern Zusammenhange erörtern.




Erinnerungen an Lothar Bucher
von Bruno Bucher 1

le Aufforderung, für die Grenzboten einen Aufsatz über meinen
Bruder Lothar zu liefern, hat mich in einige Verlegenheit ge¬
bracht. Wie es scheint, ist in der gesamten Presse Europas mit
Ausnahme des Deutschen Reichsanzeigers sein Lebensgang skizzirt
und seine Bedeutung für die Geschichte der letzten Jahrzehnte ge¬
würdigt worden, und auch jenseits des Ozeans hat man seinen Tod als ein



Nämlich die bis 1»9(> siclig wachsenden; die letzten beiden Jahre, mit denen die neueste
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/428>, abgerufen am 27.04.2024.