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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Auch ein Goetheforscher

gewerbes der Maßstab der natürlichen Stilgesetze angelegt, und eine prak¬
tische Ästehtik populär vorgetragen, deren Sätze seitdem durch hundertfache
Wiederholung Gemeingut geworden sind. Doch darf nicht verschwiegen
Merdeu, daß auch mein Bruder in diesen Dingen der Schüler Sempers war.

Einen großen Nmgangskreis hat er in London wohl nie gehabt. Zu An¬
fang der fünfziger Jahre versammelte sich an der Dinnertafel eines Speisehauses
in dem Citygäßchen Jrvnmongerlcme ziemlich regelmäßig ein Kreis von Heimat¬
losen, dessen Senior schon zweimal ans einer Heimat vertrieben war: Joseph
Savohe, einst Appellationsgerichtsrat in Zweibrücken, Herausgeber einer Zeitung,
1832 nach Frankreich geflüchtet, um nicht wie sein Genosse Wirth Wolle
spinnen zu müssen, Professor der deutschen Sprache am College Louis le Grand,
1848 Bevollmächtigter der französischen Republik bei der deutschen National¬
versammlung, 1849 Mitglied der gesetzgebenden Versammlung, nach dem Staats¬
streiche verbannt. Das Interesse für die Türken hatte Bücher mit David
Urqnhart zusammengeführt, und anch sonst fehlte es nicht an Berührungen
mit Engländern. Ant Sonntag, dessen absolute Geschäftsstille er wie jeder
hart arbeitende zu schätzen wußte (vergl. die Tischgespräche in Versailles bei
Busch, Graf Bismarck und seine Leute, Bd. 1), verband er gern einen weiten
Spaziergang mit einem Besuche in einer der deutschen Kaufmannsfamilien,
mit denen er verkehrte, und auf deren Anregung er gegen Ende seines
dortigen Aufenthalts Vorträge über deutsche Neichsgeschichte hielt.

1861 konnte er nach Deutschland zurückkehren, und über sein Gefühl beim
ersten Anblick der deutschen Küste schrieb er unmittelbar darauf: "Da war kein
Baum, unter dem ich gerastet, kein Herd, um dem ein Platz für mich offen;
aber ich war da kein Fremdling. Ich sah den Rauch von Ithaka."




Auch ein Goetheforscher

it diesen derben Versen hat Meister Bischer nicht übel gewisse
Kärrner der Goetheforschung oder, wie er sie auch nennt, die
..Stoffhuber" gezeichnet, die in übertriebner Selbstschätzung wissen¬
schaftliche Thaten vollbracht zu haben glauben, wenn sie Material
zum Material, wenn sie ein paar neue litterarische, geschichtliche
oder biographische Notizen zu dem schon vorhandnen endlosen Notizenkram bei-


Auch ein Goetheforscher

gewerbes der Maßstab der natürlichen Stilgesetze angelegt, und eine prak¬
tische Ästehtik populär vorgetragen, deren Sätze seitdem durch hundertfache
Wiederholung Gemeingut geworden sind. Doch darf nicht verschwiegen
Merdeu, daß auch mein Bruder in diesen Dingen der Schüler Sempers war.

Einen großen Nmgangskreis hat er in London wohl nie gehabt. Zu An¬
fang der fünfziger Jahre versammelte sich an der Dinnertafel eines Speisehauses
in dem Citygäßchen Jrvnmongerlcme ziemlich regelmäßig ein Kreis von Heimat¬
losen, dessen Senior schon zweimal ans einer Heimat vertrieben war: Joseph
Savohe, einst Appellationsgerichtsrat in Zweibrücken, Herausgeber einer Zeitung,
1832 nach Frankreich geflüchtet, um nicht wie sein Genosse Wirth Wolle
spinnen zu müssen, Professor der deutschen Sprache am College Louis le Grand,
1848 Bevollmächtigter der französischen Republik bei der deutschen National¬
versammlung, 1849 Mitglied der gesetzgebenden Versammlung, nach dem Staats¬
streiche verbannt. Das Interesse für die Türken hatte Bücher mit David
Urqnhart zusammengeführt, und anch sonst fehlte es nicht an Berührungen
mit Engländern. Ant Sonntag, dessen absolute Geschäftsstille er wie jeder
hart arbeitende zu schätzen wußte (vergl. die Tischgespräche in Versailles bei
Busch, Graf Bismarck und seine Leute, Bd. 1), verband er gern einen weiten
Spaziergang mit einem Besuche in einer der deutschen Kaufmannsfamilien,
mit denen er verkehrte, und auf deren Anregung er gegen Ende seines
dortigen Aufenthalts Vorträge über deutsche Neichsgeschichte hielt.

1861 konnte er nach Deutschland zurückkehren, und über sein Gefühl beim
ersten Anblick der deutschen Küste schrieb er unmittelbar darauf: „Da war kein
Baum, unter dem ich gerastet, kein Herd, um dem ein Platz für mich offen;
aber ich war da kein Fremdling. Ich sah den Rauch von Ithaka."




Auch ein Goetheforscher

it diesen derben Versen hat Meister Bischer nicht übel gewisse
Kärrner der Goetheforschung oder, wie er sie auch nennt, die
..Stoffhuber" gezeichnet, die in übertriebner Selbstschätzung wissen¬
schaftliche Thaten vollbracht zu haben glauben, wenn sie Material
zum Material, wenn sie ein paar neue litterarische, geschichtliche
oder biographische Notizen zu dem schon vorhandnen endlosen Notizenkram bei-


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[0437] Auch ein Goetheforscher gewerbes der Maßstab der natürlichen Stilgesetze angelegt, und eine prak¬ tische Ästehtik populär vorgetragen, deren Sätze seitdem durch hundertfache Wiederholung Gemeingut geworden sind. Doch darf nicht verschwiegen Merdeu, daß auch mein Bruder in diesen Dingen der Schüler Sempers war. Einen großen Nmgangskreis hat er in London wohl nie gehabt. Zu An¬ fang der fünfziger Jahre versammelte sich an der Dinnertafel eines Speisehauses in dem Citygäßchen Jrvnmongerlcme ziemlich regelmäßig ein Kreis von Heimat¬ losen, dessen Senior schon zweimal ans einer Heimat vertrieben war: Joseph Savohe, einst Appellationsgerichtsrat in Zweibrücken, Herausgeber einer Zeitung, 1832 nach Frankreich geflüchtet, um nicht wie sein Genosse Wirth Wolle spinnen zu müssen, Professor der deutschen Sprache am College Louis le Grand, 1848 Bevollmächtigter der französischen Republik bei der deutschen National¬ versammlung, 1849 Mitglied der gesetzgebenden Versammlung, nach dem Staats¬ streiche verbannt. Das Interesse für die Türken hatte Bücher mit David Urqnhart zusammengeführt, und anch sonst fehlte es nicht an Berührungen mit Engländern. Ant Sonntag, dessen absolute Geschäftsstille er wie jeder hart arbeitende zu schätzen wußte (vergl. die Tischgespräche in Versailles bei Busch, Graf Bismarck und seine Leute, Bd. 1), verband er gern einen weiten Spaziergang mit einem Besuche in einer der deutschen Kaufmannsfamilien, mit denen er verkehrte, und auf deren Anregung er gegen Ende seines dortigen Aufenthalts Vorträge über deutsche Neichsgeschichte hielt. 1861 konnte er nach Deutschland zurückkehren, und über sein Gefühl beim ersten Anblick der deutschen Küste schrieb er unmittelbar darauf: „Da war kein Baum, unter dem ich gerastet, kein Herd, um dem ein Platz für mich offen; aber ich war da kein Fremdling. Ich sah den Rauch von Ithaka." Auch ein Goetheforscher it diesen derben Versen hat Meister Bischer nicht übel gewisse Kärrner der Goetheforschung oder, wie er sie auch nennt, die ..Stoffhuber" gezeichnet, die in übertriebner Selbstschätzung wissen¬ schaftliche Thaten vollbracht zu haben glauben, wenn sie Material zum Material, wenn sie ein paar neue litterarische, geschichtliche oder biographische Notizen zu dem schon vorhandnen endlosen Notizenkram bei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/437>, abgerufen am 27.04.2024.