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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur

ringsten für die Kinderwelt interessire. Weil in unsern Angen die Kinderwelt
und die Kinderzeit mit einer Fülle von Poesie umkleidet sind, so dürfen wir des¬
halb noch nicht glauben, daß das Kind Freude daran habe, sich seine eigne Welt
zu objektiviren. Unsinn! Diese seine eigne Welt ist dem Kinde völlig gleichgiltig,
und so wird ihm nichts schneller langweilig, als alle die Bilderbücher, die ihnen
die "goldne Kinderzeit," die "fröhliche Kinderzeit," die "Freuden der Kinderstube,"
und wie die schönen Titel alle heißen, vorführen wollen. Das Kind interessirt sich
sür Könige und Prinzen, für Riesen und Zwerge, für Engel und Feen, für Löwen
und Hirsche, für Käfer und Blumen, aber schlechterdings nicht für sich selbst oder
gar für Hänschen und Fritzchen und Elschen und Trudchen. Das alles ist von
verständigen Eltern und Lehrern den Bilderbllcherfabrikanten schon hundertmal ge¬
sagt worden, aber es hilft alles nichts, der alte Schlendrian geht ruhig weiter.




Litteratur
jDiel Gründung des deutschen Reichs. 1369 -- 1871. Von W. Maurenbrecher.
Leipzig, C. E. M. Pfeffer, 1892. XIV und 262 S.

Der Verfasser -- der inzwischen am 6. November d. I. im besten Mannesalter
seinem Lehramte und der Wissenschaft durch den Tod entrissen worden ist -- bean¬
sprucht durchaus, daß sein aus Vorträgen hervorgegangnes und fiir einen größern
Leserkreis bestimmtes Buch als eine wissenschaftliche Leistung angesehn werde, so¬
wohl in seiner Stellung zu den Quellen, als in der Beurteilung der Thatsachen.
Er giebt daher auch im Vorwort eine verdienstliche Übersicht über die schon fehr
ansehnliche Litteratur über seinen Gegenstand und erklärt, nicht als Parteimann,
sondern als Historiker zu reden. Wenn er sich dabei auf den Standpunkt des
Preußisch-deutschen Nationalstaats stellt und eine warme Teilnahme an seinem Gegen¬
stande nirgends verleugnet, so ist das erstere selbstverständlich, und das zweite wirkt
nnr wohlthuend. Doch hätte eine gewisse persönliche Schärfe in der Beurteilung
mancher Persönlichkeiten, wie z. B. des Herzogs Ernst von Koburg und Friedrichs
von Augustenburg, in der Niederschrift für den Druck ohne Schaden gemildert
werden können.

Die Darstellung beginnt nach einem einleitenden Rückblick auf den preußisch¬
österreichischen Dualismus mit der Regentschaft des Prinzen Wilhelm in Preußen
1858 und führt den Leser in zwölf Kapiteln bis zum Abschluß der deutsche"
Reichsverfassung 1871. Sie ist überall klar und übersichtlich und läßt sowohl
die Strömungen in der europäischen Politik, wie die Bestrebungen der deutschen
Parteien deutlich erkennen. Dagegen wird die schon vielfach dargestellte Kriegs¬
geschichte absichtlich in den Hintergrund gedrängt.

Der Ton des Vortrags erscheint den: Leser, der die wuchtige Persönlichkeit
des Verfassers nicht mehr als Redner vor sich hat, etwas matt; namentlich
will es Maurenbrecher nicht recht gelingen, die Charaktere der maßgebenden Männer,
obwohl er sie ziemlich ausführlich behandelt, plastisch und anschaulich herauszu¬
arbeiten. In der sprachlichen Fassung würde eine sorgfältigere Durchsicht der


Litteratur

ringsten für die Kinderwelt interessire. Weil in unsern Angen die Kinderwelt
und die Kinderzeit mit einer Fülle von Poesie umkleidet sind, so dürfen wir des¬
halb noch nicht glauben, daß das Kind Freude daran habe, sich seine eigne Welt
zu objektiviren. Unsinn! Diese seine eigne Welt ist dem Kinde völlig gleichgiltig,
und so wird ihm nichts schneller langweilig, als alle die Bilderbücher, die ihnen
die „goldne Kinderzeit," die „fröhliche Kinderzeit," die „Freuden der Kinderstube,"
und wie die schönen Titel alle heißen, vorführen wollen. Das Kind interessirt sich
sür Könige und Prinzen, für Riesen und Zwerge, für Engel und Feen, für Löwen
und Hirsche, für Käfer und Blumen, aber schlechterdings nicht für sich selbst oder
gar für Hänschen und Fritzchen und Elschen und Trudchen. Das alles ist von
verständigen Eltern und Lehrern den Bilderbllcherfabrikanten schon hundertmal ge¬
sagt worden, aber es hilft alles nichts, der alte Schlendrian geht ruhig weiter.




Litteratur
jDiel Gründung des deutschen Reichs. 1369 — 1871. Von W. Maurenbrecher.
Leipzig, C. E. M. Pfeffer, 1892. XIV und 262 S.

Der Verfasser — der inzwischen am 6. November d. I. im besten Mannesalter
seinem Lehramte und der Wissenschaft durch den Tod entrissen worden ist — bean¬
sprucht durchaus, daß sein aus Vorträgen hervorgegangnes und fiir einen größern
Leserkreis bestimmtes Buch als eine wissenschaftliche Leistung angesehn werde, so¬
wohl in seiner Stellung zu den Quellen, als in der Beurteilung der Thatsachen.
Er giebt daher auch im Vorwort eine verdienstliche Übersicht über die schon fehr
ansehnliche Litteratur über seinen Gegenstand und erklärt, nicht als Parteimann,
sondern als Historiker zu reden. Wenn er sich dabei auf den Standpunkt des
Preußisch-deutschen Nationalstaats stellt und eine warme Teilnahme an seinem Gegen¬
stande nirgends verleugnet, so ist das erstere selbstverständlich, und das zweite wirkt
nnr wohlthuend. Doch hätte eine gewisse persönliche Schärfe in der Beurteilung
mancher Persönlichkeiten, wie z. B. des Herzogs Ernst von Koburg und Friedrichs
von Augustenburg, in der Niederschrift für den Druck ohne Schaden gemildert
werden können.

Die Darstellung beginnt nach einem einleitenden Rückblick auf den preußisch¬
österreichischen Dualismus mit der Regentschaft des Prinzen Wilhelm in Preußen
1858 und führt den Leser in zwölf Kapiteln bis zum Abschluß der deutsche»
Reichsverfassung 1871. Sie ist überall klar und übersichtlich und läßt sowohl
die Strömungen in der europäischen Politik, wie die Bestrebungen der deutschen
Parteien deutlich erkennen. Dagegen wird die schon vielfach dargestellte Kriegs¬
geschichte absichtlich in den Hintergrund gedrängt.

Der Ton des Vortrags erscheint den: Leser, der die wuchtige Persönlichkeit
des Verfassers nicht mehr als Redner vor sich hat, etwas matt; namentlich
will es Maurenbrecher nicht recht gelingen, die Charaktere der maßgebenden Männer,
obwohl er sie ziemlich ausführlich behandelt, plastisch und anschaulich herauszu¬
arbeiten. In der sprachlichen Fassung würde eine sorgfältigere Durchsicht der


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[0611] Litteratur ringsten für die Kinderwelt interessire. Weil in unsern Angen die Kinderwelt und die Kinderzeit mit einer Fülle von Poesie umkleidet sind, so dürfen wir des¬ halb noch nicht glauben, daß das Kind Freude daran habe, sich seine eigne Welt zu objektiviren. Unsinn! Diese seine eigne Welt ist dem Kinde völlig gleichgiltig, und so wird ihm nichts schneller langweilig, als alle die Bilderbücher, die ihnen die „goldne Kinderzeit," die „fröhliche Kinderzeit," die „Freuden der Kinderstube," und wie die schönen Titel alle heißen, vorführen wollen. Das Kind interessirt sich sür Könige und Prinzen, für Riesen und Zwerge, für Engel und Feen, für Löwen und Hirsche, für Käfer und Blumen, aber schlechterdings nicht für sich selbst oder gar für Hänschen und Fritzchen und Elschen und Trudchen. Das alles ist von verständigen Eltern und Lehrern den Bilderbllcherfabrikanten schon hundertmal ge¬ sagt worden, aber es hilft alles nichts, der alte Schlendrian geht ruhig weiter. Litteratur jDiel Gründung des deutschen Reichs. 1369 — 1871. Von W. Maurenbrecher. Leipzig, C. E. M. Pfeffer, 1892. XIV und 262 S. Der Verfasser — der inzwischen am 6. November d. I. im besten Mannesalter seinem Lehramte und der Wissenschaft durch den Tod entrissen worden ist — bean¬ sprucht durchaus, daß sein aus Vorträgen hervorgegangnes und fiir einen größern Leserkreis bestimmtes Buch als eine wissenschaftliche Leistung angesehn werde, so¬ wohl in seiner Stellung zu den Quellen, als in der Beurteilung der Thatsachen. Er giebt daher auch im Vorwort eine verdienstliche Übersicht über die schon fehr ansehnliche Litteratur über seinen Gegenstand und erklärt, nicht als Parteimann, sondern als Historiker zu reden. Wenn er sich dabei auf den Standpunkt des Preußisch-deutschen Nationalstaats stellt und eine warme Teilnahme an seinem Gegen¬ stande nirgends verleugnet, so ist das erstere selbstverständlich, und das zweite wirkt nnr wohlthuend. Doch hätte eine gewisse persönliche Schärfe in der Beurteilung mancher Persönlichkeiten, wie z. B. des Herzogs Ernst von Koburg und Friedrichs von Augustenburg, in der Niederschrift für den Druck ohne Schaden gemildert werden können. Die Darstellung beginnt nach einem einleitenden Rückblick auf den preußisch¬ österreichischen Dualismus mit der Regentschaft des Prinzen Wilhelm in Preußen 1858 und führt den Leser in zwölf Kapiteln bis zum Abschluß der deutsche» Reichsverfassung 1871. Sie ist überall klar und übersichtlich und läßt sowohl die Strömungen in der europäischen Politik, wie die Bestrebungen der deutschen Parteien deutlich erkennen. Dagegen wird die schon vielfach dargestellte Kriegs¬ geschichte absichtlich in den Hintergrund gedrängt. Der Ton des Vortrags erscheint den: Leser, der die wuchtige Persönlichkeit des Verfassers nicht mehr als Redner vor sich hat, etwas matt; namentlich will es Maurenbrecher nicht recht gelingen, die Charaktere der maßgebenden Männer, obwohl er sie ziemlich ausführlich behandelt, plastisch und anschaulich herauszu¬ arbeiten. In der sprachlichen Fassung würde eine sorgfältigere Durchsicht der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/611>, abgerufen am 27.04.2024.