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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Gin amerikanischer Sozialist

dreijährige Dienstzeit weniger böses Blut machen würde, weniger unerträglich
wäre als die gegenwärtige Einrichtung. Eine solche ist aber ohne Verringerung
der Anshebungsziffer und demgemäß Verminderung der Kriegsstärke oder
ohne bedeutende Erhöhung der Friedenspräsenz unmöglich. Und weder an
das eine noch an das andre wird gegenwärtig in Deutschland jemand ernst¬
haft denken. Es bleibt also wohl nichts andres übrig, als die Einführung
der zweijährigen Dienstzeit. Und zwar der gesetzlichen. Was für Bedenken
gegen eine nur praktisch übliche und nicht im Prinzip anerkannte Verkürzung
der Dienstzeit sprechen, darüber werden ja die Reichstagsverhandluugen in
nächster Zeit genügende Belehrung erteilen. Wenn die Regierung weise ist,
giebt sie, was sie über kurz oder lang doch geben muß, freiwillig, ungeteilt,
bedingungslos, so lange sie es noch mit Ehren bewilligen kann, so lange es
noch als ein Geschenk von ihrer Seite erscheint, ein Geschenk, das ihr die
Popularität, deren sie dringend bedürftig ist, verschaffen kann. Damit werden
auch die jetzigen Machthaber das Gespenst der Vismarckfurcht besser von ihrem
Lager bannen als mit den papiernen Waffen, die sie aus Veröffentlichung feder¬
leichter diplomatischer Noten und Erlasse gegen den Gewaltigen schmieden.




Ein amerikanischer ^ozialist
2

le alte Gesellschaftsordnung einznreißen, behauptet Groulund,
und eine neue aufzubauen, daran denken die Sozialisten so wenig,
wie etwa einen neuen Hund oder einen neuen Rosenstock zu
banen. Sie erkennen das Ziel, dem die Entwicklung zustrebt,
und beschreiben es. Er selbst beschreibt nun, wie sich der Ge¬
nossenschaftsstaat ^ aus Gewerkschaften von unter nach oben aufbauen werde.
Bei dieser Beschreibung eines Lustschlosses zu verweilen, halten wir für über¬
flüssig. Dagegen verdient die Widerlegung der Einwürfe der Gegner Beachtung.
Deu "Philistern," die den Sozialismus schlechtweg für undurchführbar er¬
klären, hält er entgegen, daß es sicherlich jeder mittelalterliche Philister für
unmöglich gehalten haben würde, eine Fünfmillionenstadt ans dem Wege der
freien Konkurrenz von Privatleuten mit Lebensmitteln zu versorgen. Man weiß,



Nur umschreibend kann man den Ausdruck LooporMvo Lomlnornvsaltti übersetzen,
etwa: ein ans genossenschaftliche Gütererzeugung und Güterverteilung gegründetes Gemein¬
wesen; für Leser, die wisse", um was es sich handelt, dürste das Wort "Genossenschaftsstaat"
denselben Dienst thun.
Grenzbotell IV 1892 !)
Gin amerikanischer Sozialist

dreijährige Dienstzeit weniger böses Blut machen würde, weniger unerträglich
wäre als die gegenwärtige Einrichtung. Eine solche ist aber ohne Verringerung
der Anshebungsziffer und demgemäß Verminderung der Kriegsstärke oder
ohne bedeutende Erhöhung der Friedenspräsenz unmöglich. Und weder an
das eine noch an das andre wird gegenwärtig in Deutschland jemand ernst¬
haft denken. Es bleibt also wohl nichts andres übrig, als die Einführung
der zweijährigen Dienstzeit. Und zwar der gesetzlichen. Was für Bedenken
gegen eine nur praktisch übliche und nicht im Prinzip anerkannte Verkürzung
der Dienstzeit sprechen, darüber werden ja die Reichstagsverhandluugen in
nächster Zeit genügende Belehrung erteilen. Wenn die Regierung weise ist,
giebt sie, was sie über kurz oder lang doch geben muß, freiwillig, ungeteilt,
bedingungslos, so lange sie es noch mit Ehren bewilligen kann, so lange es
noch als ein Geschenk von ihrer Seite erscheint, ein Geschenk, das ihr die
Popularität, deren sie dringend bedürftig ist, verschaffen kann. Damit werden
auch die jetzigen Machthaber das Gespenst der Vismarckfurcht besser von ihrem
Lager bannen als mit den papiernen Waffen, die sie aus Veröffentlichung feder¬
leichter diplomatischer Noten und Erlasse gegen den Gewaltigen schmieden.




Ein amerikanischer ^ozialist
2

le alte Gesellschaftsordnung einznreißen, behauptet Groulund,
und eine neue aufzubauen, daran denken die Sozialisten so wenig,
wie etwa einen neuen Hund oder einen neuen Rosenstock zu
banen. Sie erkennen das Ziel, dem die Entwicklung zustrebt,
und beschreiben es. Er selbst beschreibt nun, wie sich der Ge¬
nossenschaftsstaat ^ aus Gewerkschaften von unter nach oben aufbauen werde.
Bei dieser Beschreibung eines Lustschlosses zu verweilen, halten wir für über¬
flüssig. Dagegen verdient die Widerlegung der Einwürfe der Gegner Beachtung.
Deu „Philistern," die den Sozialismus schlechtweg für undurchführbar er¬
klären, hält er entgegen, daß es sicherlich jeder mittelalterliche Philister für
unmöglich gehalten haben würde, eine Fünfmillionenstadt ans dem Wege der
freien Konkurrenz von Privatleuten mit Lebensmitteln zu versorgen. Man weiß,



Nur umschreibend kann man den Ausdruck LooporMvo Lomlnornvsaltti übersetzen,
etwa: ein ans genossenschaftliche Gütererzeugung und Güterverteilung gegründetes Gemein¬
wesen; für Leser, die wisse», um was es sich handelt, dürste das Wort „Genossenschaftsstaat"
denselben Dienst thun.
Grenzbotell IV 1892 !)
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[0073] Gin amerikanischer Sozialist dreijährige Dienstzeit weniger böses Blut machen würde, weniger unerträglich wäre als die gegenwärtige Einrichtung. Eine solche ist aber ohne Verringerung der Anshebungsziffer und demgemäß Verminderung der Kriegsstärke oder ohne bedeutende Erhöhung der Friedenspräsenz unmöglich. Und weder an das eine noch an das andre wird gegenwärtig in Deutschland jemand ernst¬ haft denken. Es bleibt also wohl nichts andres übrig, als die Einführung der zweijährigen Dienstzeit. Und zwar der gesetzlichen. Was für Bedenken gegen eine nur praktisch übliche und nicht im Prinzip anerkannte Verkürzung der Dienstzeit sprechen, darüber werden ja die Reichstagsverhandluugen in nächster Zeit genügende Belehrung erteilen. Wenn die Regierung weise ist, giebt sie, was sie über kurz oder lang doch geben muß, freiwillig, ungeteilt, bedingungslos, so lange sie es noch mit Ehren bewilligen kann, so lange es noch als ein Geschenk von ihrer Seite erscheint, ein Geschenk, das ihr die Popularität, deren sie dringend bedürftig ist, verschaffen kann. Damit werden auch die jetzigen Machthaber das Gespenst der Vismarckfurcht besser von ihrem Lager bannen als mit den papiernen Waffen, die sie aus Veröffentlichung feder¬ leichter diplomatischer Noten und Erlasse gegen den Gewaltigen schmieden. Ein amerikanischer ^ozialist 2 le alte Gesellschaftsordnung einznreißen, behauptet Groulund, und eine neue aufzubauen, daran denken die Sozialisten so wenig, wie etwa einen neuen Hund oder einen neuen Rosenstock zu banen. Sie erkennen das Ziel, dem die Entwicklung zustrebt, und beschreiben es. Er selbst beschreibt nun, wie sich der Ge¬ nossenschaftsstaat ^ aus Gewerkschaften von unter nach oben aufbauen werde. Bei dieser Beschreibung eines Lustschlosses zu verweilen, halten wir für über¬ flüssig. Dagegen verdient die Widerlegung der Einwürfe der Gegner Beachtung. Deu „Philistern," die den Sozialismus schlechtweg für undurchführbar er¬ klären, hält er entgegen, daß es sicherlich jeder mittelalterliche Philister für unmöglich gehalten haben würde, eine Fünfmillionenstadt ans dem Wege der freien Konkurrenz von Privatleuten mit Lebensmitteln zu versorgen. Man weiß, Nur umschreibend kann man den Ausdruck LooporMvo Lomlnornvsaltti übersetzen, etwa: ein ans genossenschaftliche Gütererzeugung und Güterverteilung gegründetes Gemein¬ wesen; für Leser, die wisse», um was es sich handelt, dürste das Wort „Genossenschaftsstaat" denselben Dienst thun. Grenzbotell IV 1892 !)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/73>, abgerufen am 27.04.2024.