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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Stimmung in Süddeutschland

cum schon vor etwa zwei Jahren davon gesprochen werden konnte,
daß die Stimmung in den nationalen Kreisen Süddeutschlands
eigentlich eine Verstimmung sei, so liegen heute die Verhältnisse
eher schlechter als besser, ja man geht nicht zu weit mit der
Behauptung, daß diese Verstimmung als ein dauernder Druck
auf unserm öffentlichen Leben laste.

Es ist nicht ganz leicht, die Gründe dieser höchst unerfreulichen Erschei¬
nung festzustellen, da selbstverständlich auch in den nationalen Kreisen Süd-
deutschlands die politischen Anschauungen über einzelne Fragen auseinander-
gehen, und der eine diese oder jene Maßregel der Regierung billigt, die der
andre nicht scharf genug tadeln kann. Verstehen wir den süddeutschen Volks-
charakter richtig, so liegt die Hanptursache jener Verstimmung in dem Umstände,
daß man eine feste Leitung der Reichsangelegenheiten zu vermissen glaubt und
sich dadurch die Freude an der Gegenwart verderben läßt. Was zum Beispiel
die Handelsverträge anlangt, so kann man hier vielfach der Ansicht begegnen,
daß nicht eine reifliche Erwägung der berechtigten Interessen der einzelnen
Erwerbsgruppen des Volkes, sondern eine gewissermaßen dilettantisch-theoretische
Staatskunst sie zu Stande gebracht habe, ihr Nutzen oder Schaden nicht
genügend geprüft worden sei. Wenn auch augenblicklich infolge andrer großer
politischer Fragen von Erörterungen der Handelsverträge wenig mehr zu spüren
ist, so wäre es doch ein Irrtum, wollte man annehmen, daß die pfälzischen
und badischen Winzer mit großer Freude der bevorstehenden Masseneinfuhr
italienischen Mostes und italienischer Weine entgegensähen. Es wird vielmehr
längere Zeit dauern, bis man diesen Schlag gegen den deutschen Weinbau
-- in einem andern Sinne faßt wenigstens der Winzer die Handelsverträge


Grenzboten IV 1692 1


Die Stimmung in Süddeutschland

cum schon vor etwa zwei Jahren davon gesprochen werden konnte,
daß die Stimmung in den nationalen Kreisen Süddeutschlands
eigentlich eine Verstimmung sei, so liegen heute die Verhältnisse
eher schlechter als besser, ja man geht nicht zu weit mit der
Behauptung, daß diese Verstimmung als ein dauernder Druck
auf unserm öffentlichen Leben laste.

Es ist nicht ganz leicht, die Gründe dieser höchst unerfreulichen Erschei¬
nung festzustellen, da selbstverständlich auch in den nationalen Kreisen Süd-
deutschlands die politischen Anschauungen über einzelne Fragen auseinander-
gehen, und der eine diese oder jene Maßregel der Regierung billigt, die der
andre nicht scharf genug tadeln kann. Verstehen wir den süddeutschen Volks-
charakter richtig, so liegt die Hanptursache jener Verstimmung in dem Umstände,
daß man eine feste Leitung der Reichsangelegenheiten zu vermissen glaubt und
sich dadurch die Freude an der Gegenwart verderben läßt. Was zum Beispiel
die Handelsverträge anlangt, so kann man hier vielfach der Ansicht begegnen,
daß nicht eine reifliche Erwägung der berechtigten Interessen der einzelnen
Erwerbsgruppen des Volkes, sondern eine gewissermaßen dilettantisch-theoretische
Staatskunst sie zu Stande gebracht habe, ihr Nutzen oder Schaden nicht
genügend geprüft worden sei. Wenn auch augenblicklich infolge andrer großer
politischer Fragen von Erörterungen der Handelsverträge wenig mehr zu spüren
ist, so wäre es doch ein Irrtum, wollte man annehmen, daß die pfälzischen
und badischen Winzer mit großer Freude der bevorstehenden Masseneinfuhr
italienischen Mostes und italienischer Weine entgegensähen. Es wird vielmehr
längere Zeit dauern, bis man diesen Schlag gegen den deutschen Weinbau
— in einem andern Sinne faßt wenigstens der Winzer die Handelsverträge


Grenzboten IV 1692 1
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[0009] [Abbildung] Die Stimmung in Süddeutschland cum schon vor etwa zwei Jahren davon gesprochen werden konnte, daß die Stimmung in den nationalen Kreisen Süddeutschlands eigentlich eine Verstimmung sei, so liegen heute die Verhältnisse eher schlechter als besser, ja man geht nicht zu weit mit der Behauptung, daß diese Verstimmung als ein dauernder Druck auf unserm öffentlichen Leben laste. Es ist nicht ganz leicht, die Gründe dieser höchst unerfreulichen Erschei¬ nung festzustellen, da selbstverständlich auch in den nationalen Kreisen Süd- deutschlands die politischen Anschauungen über einzelne Fragen auseinander- gehen, und der eine diese oder jene Maßregel der Regierung billigt, die der andre nicht scharf genug tadeln kann. Verstehen wir den süddeutschen Volks- charakter richtig, so liegt die Hanptursache jener Verstimmung in dem Umstände, daß man eine feste Leitung der Reichsangelegenheiten zu vermissen glaubt und sich dadurch die Freude an der Gegenwart verderben läßt. Was zum Beispiel die Handelsverträge anlangt, so kann man hier vielfach der Ansicht begegnen, daß nicht eine reifliche Erwägung der berechtigten Interessen der einzelnen Erwerbsgruppen des Volkes, sondern eine gewissermaßen dilettantisch-theoretische Staatskunst sie zu Stande gebracht habe, ihr Nutzen oder Schaden nicht genügend geprüft worden sei. Wenn auch augenblicklich infolge andrer großer politischer Fragen von Erörterungen der Handelsverträge wenig mehr zu spüren ist, so wäre es doch ein Irrtum, wollte man annehmen, daß die pfälzischen und badischen Winzer mit großer Freude der bevorstehenden Masseneinfuhr italienischen Mostes und italienischer Weine entgegensähen. Es wird vielmehr längere Zeit dauern, bis man diesen Schlag gegen den deutschen Weinbau — in einem andern Sinne faßt wenigstens der Winzer die Handelsverträge Grenzboten IV 1692 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/9>, abgerufen am 27.04.2024.