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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Heinrich Heine und die Aleinen von den Seinen

anzuführen. Die "Kirche," ein "protestantisches Sonntagsblatt," knüpft in
einer ihrer vorjährigen Nummern an die Mitteilung über eine zu Gießen ab-
gehaltne Gerichtsverhandlung, in der dreizehn Gymnasiasten wegen Diebstahls
zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, die Frage: "Wie ist etwas derartiges
möglich? Was sind das für Erziehungsfrüchte?" und erteilt dann auf diese
Frage selbst die Autwort: "Das ist es eben, daß viele unsrer heutigen Schulen
zwar viel unterrichten, aber zu wenig erziehen. Hier mangelt die christliche
Liebe, die nicht nur gelehrte und "gebildete," sondern vor allem sittlichreine
und glückliche Menschen erziehen will." Das ist uns aus der Seele ge¬
sprochen!




Heinrich Heine und die Kleinen von den deinen

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re" die Grenzboten nicht, wie es ihr Beruf mit sich bringt, an¬
spruchslose Leute, so konnten sie dann und wann eine hohe Mei¬
nung von ihrem Einfluß bekommen. So in einem Falle neuesten
Datums. Ganz kürzlich haben wir gewissen Zeitungen nahe¬
gelegt, sie möchten sich als Organe des Judentums bekennen,
und schon geht uns eine Nummer eines "führenden" Blattes jener Art zu,
deren Inhalt zu verraten scheint, daß die Redaktion einsieht, wie berechtigt
jenes Ansinnen war. Den Hauptinhalt bildet nämlich 1. der Leitartikel: ein
langes Wehegeschrei über eine dem Andenken eines Juden verweigerte Hul¬
digung. Über diese Leistung sprechen wir nachher. 2. ein Feuilleton, über¬
schrieben "Ein rundes Leben." Der Aufsatz beschäftigt sich mit dem Leben
des österreichischen Geschichtsforschers Arncth und beginnt: "Wie in der Wüste
die vielen Kameelgerippe auf die Irrwege einer Karawane hinweisen, so deuten
die vielen gestürzten Ministerien auf die verfehlten Bahnen Österreichs." Später
"stürmt Ranke ins Staatsarchiv, klein, verwachsen, mit einem riesigen Haupt
nud grauem Haarwald, ein Hofzwerg der Geschichtsregentin Klio." Und am
Schlüsse heißt es: "An der Wirtstafel in Nürnberg fragte Albrecht Dürer
die Kunstgenossen, welches Ding das einfachste und dennoch das schwierigste
sei und sich sogleich probiren lasse? Während sie hin und her rieten, ergriff
er eine Kreide und zog mit freier Hand einen Kreis auf die dunkle Tisch-
Platte. Nun untersuchten die Genossen diesen Kreis mit dem Zirkel und fanden
ihn tadellos richtig. Ein so rundes Leben gleich Dürers Kreide ohne Falsch
und Fehl liegt hier vor uns ausgebreitet." Huoci srat äLnionstranclum. Der
Verfasser, vermutlich derselbe ausgezeichnete Stilist, der einmal Herrn von


Heinrich Heine und die Aleinen von den Seinen

anzuführen. Die „Kirche," ein „protestantisches Sonntagsblatt," knüpft in
einer ihrer vorjährigen Nummern an die Mitteilung über eine zu Gießen ab-
gehaltne Gerichtsverhandlung, in der dreizehn Gymnasiasten wegen Diebstahls
zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, die Frage: „Wie ist etwas derartiges
möglich? Was sind das für Erziehungsfrüchte?" und erteilt dann auf diese
Frage selbst die Autwort: „Das ist es eben, daß viele unsrer heutigen Schulen
zwar viel unterrichten, aber zu wenig erziehen. Hier mangelt die christliche
Liebe, die nicht nur gelehrte und »gebildete,« sondern vor allem sittlichreine
und glückliche Menschen erziehen will." Das ist uns aus der Seele ge¬
sprochen!




Heinrich Heine und die Kleinen von den deinen

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re» die Grenzboten nicht, wie es ihr Beruf mit sich bringt, an¬
spruchslose Leute, so konnten sie dann und wann eine hohe Mei¬
nung von ihrem Einfluß bekommen. So in einem Falle neuesten
Datums. Ganz kürzlich haben wir gewissen Zeitungen nahe¬
gelegt, sie möchten sich als Organe des Judentums bekennen,
und schon geht uns eine Nummer eines „führenden" Blattes jener Art zu,
deren Inhalt zu verraten scheint, daß die Redaktion einsieht, wie berechtigt
jenes Ansinnen war. Den Hauptinhalt bildet nämlich 1. der Leitartikel: ein
langes Wehegeschrei über eine dem Andenken eines Juden verweigerte Hul¬
digung. Über diese Leistung sprechen wir nachher. 2. ein Feuilleton, über¬
schrieben „Ein rundes Leben." Der Aufsatz beschäftigt sich mit dem Leben
des österreichischen Geschichtsforschers Arncth und beginnt: „Wie in der Wüste
die vielen Kameelgerippe auf die Irrwege einer Karawane hinweisen, so deuten
die vielen gestürzten Ministerien auf die verfehlten Bahnen Österreichs." Später
„stürmt Ranke ins Staatsarchiv, klein, verwachsen, mit einem riesigen Haupt
nud grauem Haarwald, ein Hofzwerg der Geschichtsregentin Klio." Und am
Schlüsse heißt es: „An der Wirtstafel in Nürnberg fragte Albrecht Dürer
die Kunstgenossen, welches Ding das einfachste und dennoch das schwierigste
sei und sich sogleich probiren lasse? Während sie hin und her rieten, ergriff
er eine Kreide und zog mit freier Hand einen Kreis auf die dunkle Tisch-
Platte. Nun untersuchten die Genossen diesen Kreis mit dem Zirkel und fanden
ihn tadellos richtig. Ein so rundes Leben gleich Dürers Kreide ohne Falsch
und Fehl liegt hier vor uns ausgebreitet." Huoci srat äLnionstranclum. Der
Verfasser, vermutlich derselbe ausgezeichnete Stilist, der einmal Herrn von


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[0401] Heinrich Heine und die Aleinen von den Seinen anzuführen. Die „Kirche," ein „protestantisches Sonntagsblatt," knüpft in einer ihrer vorjährigen Nummern an die Mitteilung über eine zu Gießen ab- gehaltne Gerichtsverhandlung, in der dreizehn Gymnasiasten wegen Diebstahls zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, die Frage: „Wie ist etwas derartiges möglich? Was sind das für Erziehungsfrüchte?" und erteilt dann auf diese Frage selbst die Autwort: „Das ist es eben, daß viele unsrer heutigen Schulen zwar viel unterrichten, aber zu wenig erziehen. Hier mangelt die christliche Liebe, die nicht nur gelehrte und »gebildete,« sondern vor allem sittlichreine und glückliche Menschen erziehen will." Das ist uns aus der Seele ge¬ sprochen! Heinrich Heine und die Kleinen von den deinen ä re» die Grenzboten nicht, wie es ihr Beruf mit sich bringt, an¬ spruchslose Leute, so konnten sie dann und wann eine hohe Mei¬ nung von ihrem Einfluß bekommen. So in einem Falle neuesten Datums. Ganz kürzlich haben wir gewissen Zeitungen nahe¬ gelegt, sie möchten sich als Organe des Judentums bekennen, und schon geht uns eine Nummer eines „führenden" Blattes jener Art zu, deren Inhalt zu verraten scheint, daß die Redaktion einsieht, wie berechtigt jenes Ansinnen war. Den Hauptinhalt bildet nämlich 1. der Leitartikel: ein langes Wehegeschrei über eine dem Andenken eines Juden verweigerte Hul¬ digung. Über diese Leistung sprechen wir nachher. 2. ein Feuilleton, über¬ schrieben „Ein rundes Leben." Der Aufsatz beschäftigt sich mit dem Leben des österreichischen Geschichtsforschers Arncth und beginnt: „Wie in der Wüste die vielen Kameelgerippe auf die Irrwege einer Karawane hinweisen, so deuten die vielen gestürzten Ministerien auf die verfehlten Bahnen Österreichs." Später „stürmt Ranke ins Staatsarchiv, klein, verwachsen, mit einem riesigen Haupt nud grauem Haarwald, ein Hofzwerg der Geschichtsregentin Klio." Und am Schlüsse heißt es: „An der Wirtstafel in Nürnberg fragte Albrecht Dürer die Kunstgenossen, welches Ding das einfachste und dennoch das schwierigste sei und sich sogleich probiren lasse? Während sie hin und her rieten, ergriff er eine Kreide und zog mit freier Hand einen Kreis auf die dunkle Tisch- Platte. Nun untersuchten die Genossen diesen Kreis mit dem Zirkel und fanden ihn tadellos richtig. Ein so rundes Leben gleich Dürers Kreide ohne Falsch und Fehl liegt hier vor uns ausgebreitet." Huoci srat äLnionstranclum. Der Verfasser, vermutlich derselbe ausgezeichnete Stilist, der einmal Herrn von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/401>, abgerufen am 28.04.2024.