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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

mit der unterm Durchschnitt (Wiiickelinann in der Kunstgeschichte 1:4), andre
gehn drüber hinaus (Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahren 7 - 1), Der, der
ist im allgemeinen nicht beliebt, die, die noch weniger, ganz vereinzelt die die
und die diesen. Dagegen sagt sogar Lessing derjenige, welcher!

Studenten pflegen mit beiden Händen zuzugreifen, wenn sie der Lehrer an
seiner Arbeit teilnehmen läßt. Sie fühlen sich dadurch gehoben und gefördert.
Und sie können wohl auch bei rein statistischen Arbeiten etwas lernen, erstens:
daß es ohne mühsame Vorarbeiten nirgends geht, und zweitens: daß es mit dem
bloßen Sitzefleisch nicht gethan ist. Herrn Minvrs Studenten waren in beiden
Beziehungen übel genug beraten. Das stolze Material, "vollständiger, als was
je einem andern zu Gebote stand," ist von einer kläglichen Dürftigkeit. Was sind
zweitausend Relativsätze in der gesamten deutschen Prosa von 17S0 bis 1850?
Was will ein Dutzend Schriften dieses Zeitraums zur Beurteilung einer Sprach-
erscheinnng, deren Geschichte mindestens drei Jahrhunderte weiter zurückzuvcrfolgen
war? Und was ist eine Geschichte des deutschen PrvsastilS ohne Herder, ohne
Goethes Werther, ohne Ludwig Tieck? Die nächsten zweitausend Relativsätze, die
Minor hier gewonnen hätte, würden das Thatsachcnbild ja völlig verschoben haben!
Was soll uns eine so willkürliche Statistik?

Aber freilich, auch mit einem vollständiger" Material würde Herr Minor
nichts rechtes anzufangen gewußt haben. Immer wieder würde sein Schluß
irrten: Kein großer Schriftsteller hat das Relationen welcher ganz entbehren
können, geschweige denn ich, Jakob Minor! Unser gelehrter Gegner weiß auch
was von Mundarten: warum hat er nicht da zweitausend Relativsätze sammeln
lassen? Den Thatbestand zu deuten, hätte er ja andern überlassen können. Aber
wer bejaht, der beweise. Nur komme er uns nicht uiid seinen Wiener Fiakern,
am wenigsten mit dem "Vorstand-Stellvertreter der Genossenschaft"!

Herr Minor nennt seine Entgegnung höflich; eine, aus der man das geringste
hätte lernen können, wäre uns lieber gewesen.




Litteratur

Das deutsche Reich als Staat. Eine qeschichtsphilvsophisch-politische Studie von Dr. Ritter.
I. Entstehung bis I871/gi. Dessau und Leipzig, Nich. Kahle.

In unsrer Zeit wüster Klassen- und Jnteressenkämvfe ist es eine Erquickung,
an der Hand eines Kundigen den Spuren der göttlichen Vernunft nachzugehen,
die in dem scheinbaren Chaos politischer und sozialer Kämpfe verborgen waltend,
hie und da durch ein hoffnungerregendes Gebilde ihren Zweck verrät, or. Ritter
ist ein solcher kundiger Führer, der uns eine Fülle überraschender Einblicke in die
Bedeutung und den Zusammenhang der wichtigsten Ereignisse unsrer vaterländischen
Geschichte eröffnet. Ein begeisterter Apostel des Hegelschen Glaubenssatzes, daß
der Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee sei, schließt er sein Vorwort mit
einem Ausdrucke kühner Hoffnung. "Die Entwicklung der Staaten, d. h. die Ge¬
schichte >zu dieser Definition von Geschichte macheu wir ein?! mag sich aufnehmen
wie eine Rennbahn, ans der viele vom Staude auslaufen, aber einer nur an das


Litteratur

mit der unterm Durchschnitt (Wiiickelinann in der Kunstgeschichte 1:4), andre
gehn drüber hinaus (Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahren 7 - 1), Der, der
ist im allgemeinen nicht beliebt, die, die noch weniger, ganz vereinzelt die die
und die diesen. Dagegen sagt sogar Lessing derjenige, welcher!

Studenten pflegen mit beiden Händen zuzugreifen, wenn sie der Lehrer an
seiner Arbeit teilnehmen läßt. Sie fühlen sich dadurch gehoben und gefördert.
Und sie können wohl auch bei rein statistischen Arbeiten etwas lernen, erstens:
daß es ohne mühsame Vorarbeiten nirgends geht, und zweitens: daß es mit dem
bloßen Sitzefleisch nicht gethan ist. Herrn Minvrs Studenten waren in beiden
Beziehungen übel genug beraten. Das stolze Material, „vollständiger, als was
je einem andern zu Gebote stand," ist von einer kläglichen Dürftigkeit. Was sind
zweitausend Relativsätze in der gesamten deutschen Prosa von 17S0 bis 1850?
Was will ein Dutzend Schriften dieses Zeitraums zur Beurteilung einer Sprach-
erscheinnng, deren Geschichte mindestens drei Jahrhunderte weiter zurückzuvcrfolgen
war? Und was ist eine Geschichte des deutschen PrvsastilS ohne Herder, ohne
Goethes Werther, ohne Ludwig Tieck? Die nächsten zweitausend Relativsätze, die
Minor hier gewonnen hätte, würden das Thatsachcnbild ja völlig verschoben haben!
Was soll uns eine so willkürliche Statistik?

Aber freilich, auch mit einem vollständiger» Material würde Herr Minor
nichts rechtes anzufangen gewußt haben. Immer wieder würde sein Schluß
irrten: Kein großer Schriftsteller hat das Relationen welcher ganz entbehren
können, geschweige denn ich, Jakob Minor! Unser gelehrter Gegner weiß auch
was von Mundarten: warum hat er nicht da zweitausend Relativsätze sammeln
lassen? Den Thatbestand zu deuten, hätte er ja andern überlassen können. Aber
wer bejaht, der beweise. Nur komme er uns nicht uiid seinen Wiener Fiakern,
am wenigsten mit dem „Vorstand-Stellvertreter der Genossenschaft"!

Herr Minor nennt seine Entgegnung höflich; eine, aus der man das geringste
hätte lernen können, wäre uns lieber gewesen.




Litteratur

Das deutsche Reich als Staat. Eine qeschichtsphilvsophisch-politische Studie von Dr. Ritter.
I. Entstehung bis I871/gi. Dessau und Leipzig, Nich. Kahle.

In unsrer Zeit wüster Klassen- und Jnteressenkämvfe ist es eine Erquickung,
an der Hand eines Kundigen den Spuren der göttlichen Vernunft nachzugehen,
die in dem scheinbaren Chaos politischer und sozialer Kämpfe verborgen waltend,
hie und da durch ein hoffnungerregendes Gebilde ihren Zweck verrät, or. Ritter
ist ein solcher kundiger Führer, der uns eine Fülle überraschender Einblicke in die
Bedeutung und den Zusammenhang der wichtigsten Ereignisse unsrer vaterländischen
Geschichte eröffnet. Ein begeisterter Apostel des Hegelschen Glaubenssatzes, daß
der Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee sei, schließt er sein Vorwort mit
einem Ausdrucke kühner Hoffnung. „Die Entwicklung der Staaten, d. h. die Ge¬
schichte >zu dieser Definition von Geschichte macheu wir ein?! mag sich aufnehmen
wie eine Rennbahn, ans der viele vom Staude auslaufen, aber einer nur an das


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[0608] Litteratur mit der unterm Durchschnitt (Wiiickelinann in der Kunstgeschichte 1:4), andre gehn drüber hinaus (Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahren 7 - 1), Der, der ist im allgemeinen nicht beliebt, die, die noch weniger, ganz vereinzelt die die und die diesen. Dagegen sagt sogar Lessing derjenige, welcher! Studenten pflegen mit beiden Händen zuzugreifen, wenn sie der Lehrer an seiner Arbeit teilnehmen läßt. Sie fühlen sich dadurch gehoben und gefördert. Und sie können wohl auch bei rein statistischen Arbeiten etwas lernen, erstens: daß es ohne mühsame Vorarbeiten nirgends geht, und zweitens: daß es mit dem bloßen Sitzefleisch nicht gethan ist. Herrn Minvrs Studenten waren in beiden Beziehungen übel genug beraten. Das stolze Material, „vollständiger, als was je einem andern zu Gebote stand," ist von einer kläglichen Dürftigkeit. Was sind zweitausend Relativsätze in der gesamten deutschen Prosa von 17S0 bis 1850? Was will ein Dutzend Schriften dieses Zeitraums zur Beurteilung einer Sprach- erscheinnng, deren Geschichte mindestens drei Jahrhunderte weiter zurückzuvcrfolgen war? Und was ist eine Geschichte des deutschen PrvsastilS ohne Herder, ohne Goethes Werther, ohne Ludwig Tieck? Die nächsten zweitausend Relativsätze, die Minor hier gewonnen hätte, würden das Thatsachcnbild ja völlig verschoben haben! Was soll uns eine so willkürliche Statistik? Aber freilich, auch mit einem vollständiger» Material würde Herr Minor nichts rechtes anzufangen gewußt haben. Immer wieder würde sein Schluß irrten: Kein großer Schriftsteller hat das Relationen welcher ganz entbehren können, geschweige denn ich, Jakob Minor! Unser gelehrter Gegner weiß auch was von Mundarten: warum hat er nicht da zweitausend Relativsätze sammeln lassen? Den Thatbestand zu deuten, hätte er ja andern überlassen können. Aber wer bejaht, der beweise. Nur komme er uns nicht uiid seinen Wiener Fiakern, am wenigsten mit dem „Vorstand-Stellvertreter der Genossenschaft"! Herr Minor nennt seine Entgegnung höflich; eine, aus der man das geringste hätte lernen können, wäre uns lieber gewesen. Litteratur Das deutsche Reich als Staat. Eine qeschichtsphilvsophisch-politische Studie von Dr. Ritter. I. Entstehung bis I871/gi. Dessau und Leipzig, Nich. Kahle. In unsrer Zeit wüster Klassen- und Jnteressenkämvfe ist es eine Erquickung, an der Hand eines Kundigen den Spuren der göttlichen Vernunft nachzugehen, die in dem scheinbaren Chaos politischer und sozialer Kämpfe verborgen waltend, hie und da durch ein hoffnungerregendes Gebilde ihren Zweck verrät, or. Ritter ist ein solcher kundiger Führer, der uns eine Fülle überraschender Einblicke in die Bedeutung und den Zusammenhang der wichtigsten Ereignisse unsrer vaterländischen Geschichte eröffnet. Ein begeisterter Apostel des Hegelschen Glaubenssatzes, daß der Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee sei, schließt er sein Vorwort mit einem Ausdrucke kühner Hoffnung. „Die Entwicklung der Staaten, d. h. die Ge¬ schichte >zu dieser Definition von Geschichte macheu wir ein?! mag sich aufnehmen wie eine Rennbahn, ans der viele vom Staude auslaufen, aber einer nur an das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/608>, abgerufen am 27.04.2024.