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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Weder Kommunismus noch Kapitalismus
11

as Elend ausrotten wollen, wäre utopisch. Aber das Massen¬
elend ausrotten wolle", ist nicht utopisch, weil dieses Übel keines¬
wegs mit Notwendigkeit aus der Natur der Erde und des
Menschengeschlechts hervorgeht, sondern außer dein übervölkerten
China nur die modernen Kulturstaaten drückt. Wir sind, von
vielen verschiednen Seiten in die Frage eindringend, überall ans die Übervölke¬
rung -- natürliche oder künstlich erzeugte -- als die eigentliche Ursache der
Masscuuot gestoßen und habe" damit keine neue Weisheit entdeckt, denn vom
Anbeginn der Kultur bis ans Ende des Mittelalters haben alle Volker und
Regierungen gar wohl gewußt, daß Massenelend unvermeidlich ist, wenn man
einem Lande mehr Einwohner zu tragen zumutet, als es bequem ernähren
kann, nud haben jedesmal dem Beginn des Übels durch Kolonisation gesteuert;
nicht durch solche Spielerei, wie wir sie heute unter dem Namen Kolonisation
betreiben, sondern durch wirkliche Verpflanzung eines Viertels oder Drittels
der Bewohnerschaft in ein fremdes Land. Bei uns ist schon der Gedanke an
wirkliche Kolonisation, das heißt an das einzige mögliche Mittel, unser Massen¬
elend zu beseitigen, verpönt, und die förmliche Aufforderung dazu würde mit
den härtesten Strafen geahndet werden. Das ist ganz natürlich. Denn, wie
wir gesehen haben, die Anhäufung großer Vermögen hat das Massenelend zur
Voraussetzung, und daher dürfen die reichen Leute, die ja selbstverständlich
den größten Einfluß im Staate haben, jenen Gedanken in der öffentlichen
Meinung nicht aufkommen lassen. Selbstverständlich suchen sie die Wahrheit
so gut wie möglich zu verstecken, und am geeignetsten scheinen ihnen für diesen
Zweck solche allgemeine Redensarten, wie daß der Kulturfortschritt Opfer er¬
fordere, und daß man für die Segnungen der Kultur ihre Übel mit in Kauf
nehmen müsse. Das Truggewebe dieser Redensarten gedenken wir im nach¬
folgenden zu zerreißen.

Es hieße Holz in den Wald trage", wollten Arr die in unsern Betrach¬
tungen schon mehrfach erwähnte Thatsache ausführlich erörtern, daß die höchsten
Blüten der Geistes-, Gemüts- und Herzenstnltur aus einer mittlern Lebens¬
lage erwachsen sind, die gleich weit entfernt war von großen: Reichtum wie


Grenzbvte" I I89!j 77


Weder Kommunismus noch Kapitalismus
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as Elend ausrotten wollen, wäre utopisch. Aber das Massen¬
elend ausrotten wolle«, ist nicht utopisch, weil dieses Übel keines¬
wegs mit Notwendigkeit aus der Natur der Erde und des
Menschengeschlechts hervorgeht, sondern außer dein übervölkerten
China nur die modernen Kulturstaaten drückt. Wir sind, von
vielen verschiednen Seiten in die Frage eindringend, überall ans die Übervölke¬
rung — natürliche oder künstlich erzeugte — als die eigentliche Ursache der
Masscuuot gestoßen und habe» damit keine neue Weisheit entdeckt, denn vom
Anbeginn der Kultur bis ans Ende des Mittelalters haben alle Volker und
Regierungen gar wohl gewußt, daß Massenelend unvermeidlich ist, wenn man
einem Lande mehr Einwohner zu tragen zumutet, als es bequem ernähren
kann, nud haben jedesmal dem Beginn des Übels durch Kolonisation gesteuert;
nicht durch solche Spielerei, wie wir sie heute unter dem Namen Kolonisation
betreiben, sondern durch wirkliche Verpflanzung eines Viertels oder Drittels
der Bewohnerschaft in ein fremdes Land. Bei uns ist schon der Gedanke an
wirkliche Kolonisation, das heißt an das einzige mögliche Mittel, unser Massen¬
elend zu beseitigen, verpönt, und die förmliche Aufforderung dazu würde mit
den härtesten Strafen geahndet werden. Das ist ganz natürlich. Denn, wie
wir gesehen haben, die Anhäufung großer Vermögen hat das Massenelend zur
Voraussetzung, und daher dürfen die reichen Leute, die ja selbstverständlich
den größten Einfluß im Staate haben, jenen Gedanken in der öffentlichen
Meinung nicht aufkommen lassen. Selbstverständlich suchen sie die Wahrheit
so gut wie möglich zu verstecken, und am geeignetsten scheinen ihnen für diesen
Zweck solche allgemeine Redensarten, wie daß der Kulturfortschritt Opfer er¬
fordere, und daß man für die Segnungen der Kultur ihre Übel mit in Kauf
nehmen müsse. Das Truggewebe dieser Redensarten gedenken wir im nach¬
folgenden zu zerreißen.

Es hieße Holz in den Wald trage», wollten Arr die in unsern Betrach¬
tungen schon mehrfach erwähnte Thatsache ausführlich erörtern, daß die höchsten
Blüten der Geistes-, Gemüts- und Herzenstnltur aus einer mittlern Lebens¬
lage erwachsen sind, die gleich weit entfernt war von großen: Reichtum wie


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[0619] [Abbildung] Weder Kommunismus noch Kapitalismus 11 as Elend ausrotten wollen, wäre utopisch. Aber das Massen¬ elend ausrotten wolle«, ist nicht utopisch, weil dieses Übel keines¬ wegs mit Notwendigkeit aus der Natur der Erde und des Menschengeschlechts hervorgeht, sondern außer dein übervölkerten China nur die modernen Kulturstaaten drückt. Wir sind, von vielen verschiednen Seiten in die Frage eindringend, überall ans die Übervölke¬ rung — natürliche oder künstlich erzeugte — als die eigentliche Ursache der Masscuuot gestoßen und habe» damit keine neue Weisheit entdeckt, denn vom Anbeginn der Kultur bis ans Ende des Mittelalters haben alle Volker und Regierungen gar wohl gewußt, daß Massenelend unvermeidlich ist, wenn man einem Lande mehr Einwohner zu tragen zumutet, als es bequem ernähren kann, nud haben jedesmal dem Beginn des Übels durch Kolonisation gesteuert; nicht durch solche Spielerei, wie wir sie heute unter dem Namen Kolonisation betreiben, sondern durch wirkliche Verpflanzung eines Viertels oder Drittels der Bewohnerschaft in ein fremdes Land. Bei uns ist schon der Gedanke an wirkliche Kolonisation, das heißt an das einzige mögliche Mittel, unser Massen¬ elend zu beseitigen, verpönt, und die förmliche Aufforderung dazu würde mit den härtesten Strafen geahndet werden. Das ist ganz natürlich. Denn, wie wir gesehen haben, die Anhäufung großer Vermögen hat das Massenelend zur Voraussetzung, und daher dürfen die reichen Leute, die ja selbstverständlich den größten Einfluß im Staate haben, jenen Gedanken in der öffentlichen Meinung nicht aufkommen lassen. Selbstverständlich suchen sie die Wahrheit so gut wie möglich zu verstecken, und am geeignetsten scheinen ihnen für diesen Zweck solche allgemeine Redensarten, wie daß der Kulturfortschritt Opfer er¬ fordere, und daß man für die Segnungen der Kultur ihre Übel mit in Kauf nehmen müsse. Das Truggewebe dieser Redensarten gedenken wir im nach¬ folgenden zu zerreißen. Es hieße Holz in den Wald trage», wollten Arr die in unsern Betrach¬ tungen schon mehrfach erwähnte Thatsache ausführlich erörtern, daß die höchsten Blüten der Geistes-, Gemüts- und Herzenstnltur aus einer mittlern Lebens¬ lage erwachsen sind, die gleich weit entfernt war von großen: Reichtum wie Grenzbvte» I I89!j 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/619>, abgerufen am 27.04.2024.