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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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an denen es niemals fehlt, und im Vergleich zu der ungeheuern Zahl von
Menschen, die im Massenelend sittlich verkümmern und verderben, kommen die
einzelnen Hcldencharnktere, die es erzeugt, kaum in Betracht. Auch ist es nicht
erlaubt, Übelstände, die man beseitigen kann, deshalb zu erhalten, weil Gutes
daraus entspringt; was würde man von einem Menschen sagen, der die Ketzer¬
verbrennung wieder einführen wollte, weil standhafte Glaubeuszeugeu eine
Zierde der Menschheit sind?

Also wir sehen, Nieder durch die Gesetze der Natur noch durch die An¬
sprüche der Kultur läßt sich das Massenelend rechtfertigen. Nur ein Fall ist
denkbar, wo es als notwendig erkannt werden müßte, nämlich wenn Karl
Marx mit seiner Auffassung der sozialen und volkswirtschaftlichen Entwicklung
das Richtige getroffen hätte. Wäre wirklich der Umschlag der kapitalistischen
in die kommunistische Produktionsweise das nächste Ziel der Entwicklung, so
wäre allerdings das Massenelend unumgänglich notwendig, einmal als die
unvermeidliche Wirkung der Vermögeuskonzentration, die zum Umschlage führen
soll, und andrerseits als das unentbehrliche Mittel zur Vereinigung der Leidens-
genossen, der Proletarier aller Länder, die die neue Ordnung aufrichten sollen.
Behaupten, daß innerhalb der bestehenden Ordnung das Proletarierelend, die
Massenarmut, unheilbar sei, das heißt, jene Ordnung verurteilen und sich zu
Marx bekennen. ^)




Leopold von Gerlach
v "Leto Aaemmel on (Schluß)

n seiner Beurteilung der Bestrebungen für Berufung eines
deutschen Parlaments und die Begründung einer deutschen
Reichsverfassung kann sich Gerlach kaum genug thun in Aus¬
drücken der Verdammung und des Abscheus. Die Deutschen
hätten, sagt er, die Vormundschaft ihrer Fürsten abgeworfen
und sich dafür unter die der französischen Revolutionäre gestellt. Den Fünfziger¬
ausschuß nennt er, uicht ganz mit Unrecht, ,,eine willkürlich zusammengestellte



") Bemerkung der Redaktion. Da unsre Artikelreihe "Weder Komimmisimis noch
Kapitalismus" nächstens als Buch erscheinen soll, ihres aktuellen Charakters wegen aber es nicht
rätlich scheint, die Herausgabe des Manuskripts uoch länger zu verzögern, so brechen wir die
Veröffentlichung in den Grenzboten an dieser Stelle ub und verweisen die Leser für den Schlich
nuf das Buch. In den folgende" Kapiteln berührt der Verfasser die beiden einander bekämpfenden

an denen es niemals fehlt, und im Vergleich zu der ungeheuern Zahl von
Menschen, die im Massenelend sittlich verkümmern und verderben, kommen die
einzelnen Hcldencharnktere, die es erzeugt, kaum in Betracht. Auch ist es nicht
erlaubt, Übelstände, die man beseitigen kann, deshalb zu erhalten, weil Gutes
daraus entspringt; was würde man von einem Menschen sagen, der die Ketzer¬
verbrennung wieder einführen wollte, weil standhafte Glaubeuszeugeu eine
Zierde der Menschheit sind?

Also wir sehen, Nieder durch die Gesetze der Natur noch durch die An¬
sprüche der Kultur läßt sich das Massenelend rechtfertigen. Nur ein Fall ist
denkbar, wo es als notwendig erkannt werden müßte, nämlich wenn Karl
Marx mit seiner Auffassung der sozialen und volkswirtschaftlichen Entwicklung
das Richtige getroffen hätte. Wäre wirklich der Umschlag der kapitalistischen
in die kommunistische Produktionsweise das nächste Ziel der Entwicklung, so
wäre allerdings das Massenelend unumgänglich notwendig, einmal als die
unvermeidliche Wirkung der Vermögeuskonzentration, die zum Umschlage führen
soll, und andrerseits als das unentbehrliche Mittel zur Vereinigung der Leidens-
genossen, der Proletarier aller Länder, die die neue Ordnung aufrichten sollen.
Behaupten, daß innerhalb der bestehenden Ordnung das Proletarierelend, die
Massenarmut, unheilbar sei, das heißt, jene Ordnung verurteilen und sich zu
Marx bekennen. ^)




Leopold von Gerlach
v «Leto Aaemmel on (Schluß)

n seiner Beurteilung der Bestrebungen für Berufung eines
deutschen Parlaments und die Begründung einer deutschen
Reichsverfassung kann sich Gerlach kaum genug thun in Aus¬
drücken der Verdammung und des Abscheus. Die Deutschen
hätten, sagt er, die Vormundschaft ihrer Fürsten abgeworfen
und sich dafür unter die der französischen Revolutionäre gestellt. Den Fünfziger¬
ausschuß nennt er, uicht ganz mit Unrecht, ,,eine willkürlich zusammengestellte



») Bemerkung der Redaktion. Da unsre Artikelreihe „Weder Komimmisimis noch
Kapitalismus" nächstens als Buch erscheinen soll, ihres aktuellen Charakters wegen aber es nicht
rätlich scheint, die Herausgabe des Manuskripts uoch länger zu verzögern, so brechen wir die
Veröffentlichung in den Grenzboten an dieser Stelle ub und verweisen die Leser für den Schlich
nuf das Buch. In den folgende» Kapiteln berührt der Verfasser die beiden einander bekämpfenden
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[0631] an denen es niemals fehlt, und im Vergleich zu der ungeheuern Zahl von Menschen, die im Massenelend sittlich verkümmern und verderben, kommen die einzelnen Hcldencharnktere, die es erzeugt, kaum in Betracht. Auch ist es nicht erlaubt, Übelstände, die man beseitigen kann, deshalb zu erhalten, weil Gutes daraus entspringt; was würde man von einem Menschen sagen, der die Ketzer¬ verbrennung wieder einführen wollte, weil standhafte Glaubeuszeugeu eine Zierde der Menschheit sind? Also wir sehen, Nieder durch die Gesetze der Natur noch durch die An¬ sprüche der Kultur läßt sich das Massenelend rechtfertigen. Nur ein Fall ist denkbar, wo es als notwendig erkannt werden müßte, nämlich wenn Karl Marx mit seiner Auffassung der sozialen und volkswirtschaftlichen Entwicklung das Richtige getroffen hätte. Wäre wirklich der Umschlag der kapitalistischen in die kommunistische Produktionsweise das nächste Ziel der Entwicklung, so wäre allerdings das Massenelend unumgänglich notwendig, einmal als die unvermeidliche Wirkung der Vermögeuskonzentration, die zum Umschlage führen soll, und andrerseits als das unentbehrliche Mittel zur Vereinigung der Leidens- genossen, der Proletarier aller Länder, die die neue Ordnung aufrichten sollen. Behaupten, daß innerhalb der bestehenden Ordnung das Proletarierelend, die Massenarmut, unheilbar sei, das heißt, jene Ordnung verurteilen und sich zu Marx bekennen. ^) Leopold von Gerlach v «Leto Aaemmel on (Schluß) n seiner Beurteilung der Bestrebungen für Berufung eines deutschen Parlaments und die Begründung einer deutschen Reichsverfassung kann sich Gerlach kaum genug thun in Aus¬ drücken der Verdammung und des Abscheus. Die Deutschen hätten, sagt er, die Vormundschaft ihrer Fürsten abgeworfen und sich dafür unter die der französischen Revolutionäre gestellt. Den Fünfziger¬ ausschuß nennt er, uicht ganz mit Unrecht, ,,eine willkürlich zusammengestellte ») Bemerkung der Redaktion. Da unsre Artikelreihe „Weder Komimmisimis noch Kapitalismus" nächstens als Buch erscheinen soll, ihres aktuellen Charakters wegen aber es nicht rätlich scheint, die Herausgabe des Manuskripts uoch länger zu verzögern, so brechen wir die Veröffentlichung in den Grenzboten an dieser Stelle ub und verweisen die Leser für den Schlich nuf das Buch. In den folgende» Kapiteln berührt der Verfasser die beiden einander bekämpfenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/631>, abgerufen am 27.04.2024.