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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Weltseele und allermodernste (Lthik
Eine Neujcchrsbetrcichtnng

erkwnrdig, n>as fiir Gründungen wir heutzutage auf geistigem
Gebiete erleben! Wenn in den siebziger Jahren die Volksgenossen
zeitweilig auf wirtschaftlichem Gebiete von luftigen Plänen über¬
rascht wurden, die darauf angelegt waren, die Taschen zu er¬
leichtern, so bieten sich heute nicht minder zahlreich und nicht
minder bescheiden angepriesen Phantasiegebilde an, die Gemüter zu beschweren-
Damals folgte auf den kurzen Rausch, der den Tanz ums goldne Kalb in
neuen Formen zeitigte, eine arge Ernüchterung. Was aus den heutigen Grün¬
dungen hervorgehen wird, wer will es sagen! Doch mit Staunen und mit
Grauen sehens die Ritter und Edelfrauen.

Hat man doch außer den vielen andern Vereinen in Neujerusalem einen
Verein gegründet unter dem Zeichen glänzender Sternbilder, von dem die Mit¬
glieder ein bazillenfreies Wachstum hoffen, das alle Krankheitsstvffe in der
Gesellschaft anfsnugcn und sie selbst der Welt erneuert und verjüngt wiedergeben
soll. Von vier Seiten her will der Verein für ethische Kultur den Erneuerungs¬
prozeß einleiten, von der pädagogischen, der litterarischen, der musischen und
der sozialen. So versicherte man sich der Wege, ehe man die Ziele kannte --
eine neue Strategie. Unser bewährter Feldmarschall sagte: "Erst das Ziel,
und dann die Bahn." Und Lessing, den die Herren Wohl gelten lassen werden,
meinte: "Der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht noch
immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirrt." Aber vielleicht setzen die
Kultnrvereinler stillschweigend voraus, daß alle Wege nach Rom führen. Wozu
also über das Ziel streiten? Vielleicht war es auch besser, es im Halbdunkel
zu lassen; denn ehe man volle Klarheit verschafft hätte, wäre die Gesellschaft
in soviel Atome zerstoben, als Kopfe zu ihr gehörten. So wird die Katastrophe


Grenzboten I 1893 8


Weltseele und allermodernste (Lthik
Eine Neujcchrsbetrcichtnng

erkwnrdig, n>as fiir Gründungen wir heutzutage auf geistigem
Gebiete erleben! Wenn in den siebziger Jahren die Volksgenossen
zeitweilig auf wirtschaftlichem Gebiete von luftigen Plänen über¬
rascht wurden, die darauf angelegt waren, die Taschen zu er¬
leichtern, so bieten sich heute nicht minder zahlreich und nicht
minder bescheiden angepriesen Phantasiegebilde an, die Gemüter zu beschweren-
Damals folgte auf den kurzen Rausch, der den Tanz ums goldne Kalb in
neuen Formen zeitigte, eine arge Ernüchterung. Was aus den heutigen Grün¬
dungen hervorgehen wird, wer will es sagen! Doch mit Staunen und mit
Grauen sehens die Ritter und Edelfrauen.

Hat man doch außer den vielen andern Vereinen in Neujerusalem einen
Verein gegründet unter dem Zeichen glänzender Sternbilder, von dem die Mit¬
glieder ein bazillenfreies Wachstum hoffen, das alle Krankheitsstvffe in der
Gesellschaft anfsnugcn und sie selbst der Welt erneuert und verjüngt wiedergeben
soll. Von vier Seiten her will der Verein für ethische Kultur den Erneuerungs¬
prozeß einleiten, von der pädagogischen, der litterarischen, der musischen und
der sozialen. So versicherte man sich der Wege, ehe man die Ziele kannte —
eine neue Strategie. Unser bewährter Feldmarschall sagte: „Erst das Ziel,
und dann die Bahn." Und Lessing, den die Herren Wohl gelten lassen werden,
meinte: „Der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht noch
immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirrt." Aber vielleicht setzen die
Kultnrvereinler stillschweigend voraus, daß alle Wege nach Rom führen. Wozu
also über das Ziel streiten? Vielleicht war es auch besser, es im Halbdunkel
zu lassen; denn ehe man volle Klarheit verschafft hätte, wäre die Gesellschaft
in soviel Atome zerstoben, als Kopfe zu ihr gehörten. So wird die Katastrophe


Grenzboten I 1893 8
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[0067] [Abbildung] Weltseele und allermodernste (Lthik Eine Neujcchrsbetrcichtnng erkwnrdig, n>as fiir Gründungen wir heutzutage auf geistigem Gebiete erleben! Wenn in den siebziger Jahren die Volksgenossen zeitweilig auf wirtschaftlichem Gebiete von luftigen Plänen über¬ rascht wurden, die darauf angelegt waren, die Taschen zu er¬ leichtern, so bieten sich heute nicht minder zahlreich und nicht minder bescheiden angepriesen Phantasiegebilde an, die Gemüter zu beschweren- Damals folgte auf den kurzen Rausch, der den Tanz ums goldne Kalb in neuen Formen zeitigte, eine arge Ernüchterung. Was aus den heutigen Grün¬ dungen hervorgehen wird, wer will es sagen! Doch mit Staunen und mit Grauen sehens die Ritter und Edelfrauen. Hat man doch außer den vielen andern Vereinen in Neujerusalem einen Verein gegründet unter dem Zeichen glänzender Sternbilder, von dem die Mit¬ glieder ein bazillenfreies Wachstum hoffen, das alle Krankheitsstvffe in der Gesellschaft anfsnugcn und sie selbst der Welt erneuert und verjüngt wiedergeben soll. Von vier Seiten her will der Verein für ethische Kultur den Erneuerungs¬ prozeß einleiten, von der pädagogischen, der litterarischen, der musischen und der sozialen. So versicherte man sich der Wege, ehe man die Ziele kannte — eine neue Strategie. Unser bewährter Feldmarschall sagte: „Erst das Ziel, und dann die Bahn." Und Lessing, den die Herren Wohl gelten lassen werden, meinte: „Der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirrt." Aber vielleicht setzen die Kultnrvereinler stillschweigend voraus, daß alle Wege nach Rom führen. Wozu also über das Ziel streiten? Vielleicht war es auch besser, es im Halbdunkel zu lassen; denn ehe man volle Klarheit verschafft hätte, wäre die Gesellschaft in soviel Atome zerstoben, als Kopfe zu ihr gehörten. So wird die Katastrophe Grenzboten I 1893 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/67>, abgerufen am 27.04.2024.