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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Leopold Kümmerlich

Nntionalbildersammlung hätte", warum sollten sie nicht von einem Stamm
zum andern wandern? So hat es jahrzehntelang der preußische Staat, sehr
zur Förderung des Knnstgeschmacks, mit seiner Kunstausstellung gehalten. Das
wäre der Anfang zu einer Dezentralisation des Geisteslebens, die in erster Reihe
dem wirklichen Volke zu gute kommen würde.




Leopold Kümmerlich
Verfasser der Bilder aus dem UniversitÄtsleben von dem

er alte Kanzlist Kümmerlich fand an seinem Sohne alles vor¬
trefflich, obgleich Leopold ein Junge von weniger als mittel¬
mäßiger Begabung, geringem. Scharfsinn und dürftiger Phantasie
war. Das hatten auch die Lehrer des Gymnasiums gewußt.
Aber sie hielten alle Schüler, selbst die unfähigsten, bis obenhin
fest, weil in der kleinen westpreußischen Stadt das Schülermaterial an und
für sich erbärmlich war, die obern Klassen immer nur spärlich besetzt waren,
nud man im geheimen fürchtete, die Prima könnte dem Ghmnasiuin eines
Tags als überflüssig abgekappt werden.

So hatte denn auch Leopold Kümmerlich glücklich die Abgangsprüfung
bestanden. Freilich war es ihm nicht leicht geworden, die alte Kletterstange
bis zu dem Ende hinaufzukriechen, wo der Staat als Belohnung den großen
Freibrief für alle Karrieren aufgehängt hat. Aber Leopold hatte den Maugel
an Begabung durch krampfhaften Fleiß und durch unterwürfige Bescheidenheit
ersetzt; er wußte die ganze lateinische und griechische Grammatik auswendig,
und das machte ihn zum Liebling des Direktors. Zu seinen Lehrern schaute
er wie zu Halbgöttern empor, und diese seltne Tugend war mehr wert als
alle Begabung.

Ich hatte mein erstes Semester hinter mir und hielt mich während der
Universitütsferien zu Hause auf. Nach dem Abiturientenexamen besuchte ich
meinen alte" Schulkameraden Leopold und brachte ihm meine Glückwünsche.
Der alte Kanzlist war über den Erfolg seines Sohnes außer sich vor Freude.
Selbst das "Ungenügend" in der Mathematik störte ihn nicht. Er hatte
einmal irgendwo gelesen, daß geniale Menschen gewöhnlich wenig Verständnis
s"r mathematische Begriffe hätten. Der Bengel ist ein Genie! sagte er leise
seinem Kollegen Hickelbein, als wir mit Leopold zusammen in der goldnen
Traube am Kneiptisch saßen. Passen Sie auf, was aus dem wird!


Leopold Kümmerlich

Nntionalbildersammlung hätte», warum sollten sie nicht von einem Stamm
zum andern wandern? So hat es jahrzehntelang der preußische Staat, sehr
zur Förderung des Knnstgeschmacks, mit seiner Kunstausstellung gehalten. Das
wäre der Anfang zu einer Dezentralisation des Geisteslebens, die in erster Reihe
dem wirklichen Volke zu gute kommen würde.




Leopold Kümmerlich
Verfasser der Bilder aus dem UniversitÄtsleben von dem

er alte Kanzlist Kümmerlich fand an seinem Sohne alles vor¬
trefflich, obgleich Leopold ein Junge von weniger als mittel¬
mäßiger Begabung, geringem. Scharfsinn und dürftiger Phantasie
war. Das hatten auch die Lehrer des Gymnasiums gewußt.
Aber sie hielten alle Schüler, selbst die unfähigsten, bis obenhin
fest, weil in der kleinen westpreußischen Stadt das Schülermaterial an und
für sich erbärmlich war, die obern Klassen immer nur spärlich besetzt waren,
nud man im geheimen fürchtete, die Prima könnte dem Ghmnasiuin eines
Tags als überflüssig abgekappt werden.

So hatte denn auch Leopold Kümmerlich glücklich die Abgangsprüfung
bestanden. Freilich war es ihm nicht leicht geworden, die alte Kletterstange
bis zu dem Ende hinaufzukriechen, wo der Staat als Belohnung den großen
Freibrief für alle Karrieren aufgehängt hat. Aber Leopold hatte den Maugel
an Begabung durch krampfhaften Fleiß und durch unterwürfige Bescheidenheit
ersetzt; er wußte die ganze lateinische und griechische Grammatik auswendig,
und das machte ihn zum Liebling des Direktors. Zu seinen Lehrern schaute
er wie zu Halbgöttern empor, und diese seltne Tugend war mehr wert als
alle Begabung.

Ich hatte mein erstes Semester hinter mir und hielt mich während der
Universitütsferien zu Hause auf. Nach dem Abiturientenexamen besuchte ich
meinen alte» Schulkameraden Leopold und brachte ihm meine Glückwünsche.
Der alte Kanzlist war über den Erfolg seines Sohnes außer sich vor Freude.
Selbst das „Ungenügend" in der Mathematik störte ihn nicht. Er hatte
einmal irgendwo gelesen, daß geniale Menschen gewöhnlich wenig Verständnis
s"r mathematische Begriffe hätten. Der Bengel ist ein Genie! sagte er leise
seinem Kollegen Hickelbein, als wir mit Leopold zusammen in der goldnen
Traube am Kneiptisch saßen. Passen Sie auf, was aus dem wird!


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[0135] Leopold Kümmerlich Nntionalbildersammlung hätte», warum sollten sie nicht von einem Stamm zum andern wandern? So hat es jahrzehntelang der preußische Staat, sehr zur Förderung des Knnstgeschmacks, mit seiner Kunstausstellung gehalten. Das wäre der Anfang zu einer Dezentralisation des Geisteslebens, die in erster Reihe dem wirklichen Volke zu gute kommen würde. Leopold Kümmerlich Verfasser der Bilder aus dem UniversitÄtsleben von dem er alte Kanzlist Kümmerlich fand an seinem Sohne alles vor¬ trefflich, obgleich Leopold ein Junge von weniger als mittel¬ mäßiger Begabung, geringem. Scharfsinn und dürftiger Phantasie war. Das hatten auch die Lehrer des Gymnasiums gewußt. Aber sie hielten alle Schüler, selbst die unfähigsten, bis obenhin fest, weil in der kleinen westpreußischen Stadt das Schülermaterial an und für sich erbärmlich war, die obern Klassen immer nur spärlich besetzt waren, nud man im geheimen fürchtete, die Prima könnte dem Ghmnasiuin eines Tags als überflüssig abgekappt werden. So hatte denn auch Leopold Kümmerlich glücklich die Abgangsprüfung bestanden. Freilich war es ihm nicht leicht geworden, die alte Kletterstange bis zu dem Ende hinaufzukriechen, wo der Staat als Belohnung den großen Freibrief für alle Karrieren aufgehängt hat. Aber Leopold hatte den Maugel an Begabung durch krampfhaften Fleiß und durch unterwürfige Bescheidenheit ersetzt; er wußte die ganze lateinische und griechische Grammatik auswendig, und das machte ihn zum Liebling des Direktors. Zu seinen Lehrern schaute er wie zu Halbgöttern empor, und diese seltne Tugend war mehr wert als alle Begabung. Ich hatte mein erstes Semester hinter mir und hielt mich während der Universitütsferien zu Hause auf. Nach dem Abiturientenexamen besuchte ich meinen alte» Schulkameraden Leopold und brachte ihm meine Glückwünsche. Der alte Kanzlist war über den Erfolg seines Sohnes außer sich vor Freude. Selbst das „Ungenügend" in der Mathematik störte ihn nicht. Er hatte einmal irgendwo gelesen, daß geniale Menschen gewöhnlich wenig Verständnis s"r mathematische Begriffe hätten. Der Bengel ist ein Genie! sagte er leise seinem Kollegen Hickelbein, als wir mit Leopold zusammen in der goldnen Traube am Kneiptisch saßen. Passen Sie auf, was aus dem wird!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/135>, abgerufen am 06.05.2024.