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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

Flügel führenden Hauptthores zugestanden. In dem von ihm selbst bewohnten
Teile des Palastes hat der Kaiser aber noch keinen Ausländer empfangen. Die
nächste Audienz wird möglicherweise dem Nachfolger des jetzigen deutschen Ge¬
sandten erteilt werden, weil Herr von Brandt im Frühling leider seinen Ab¬
schied nehmen will.

Wenn der neue Gesandte ein paar Kriegsschiffe mit hierher bringen
könnte, so würde sich jeder Deutsche in Ostasien darüber freuen. Es mich
immer wieder auf die höchst ungenügende hier stationirte deutsche Marinemacht
hingewiesen werden. Von unsern beiden Kanoueubovteu überwintert eins ge¬
wöhnlich in Tientsin, sodaß dann mehrere Monate nur ein einziges kleines
Kriegsschiff wirklich verwendbar ist. Dies ist in unruhigen Zeiten, die leicht
einmal wieder eintreten können, viel zu wenig zur nachdrücklichen Wahrung
der großen Handelsinteressen, die das deutsche Reich in Ostasien zu vertreten
hat. Übergroße Sparsamkeit könnte sich hier einmal bitter rächen.




Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage
(Schlich)

ürst Bismarck hat den Reichstag oft und bitter angeklagt, daß
in ihm das Fraktionsinteresse jedes andre überwiege. Neuer¬
dings hat er seine Klagen noch dahin erweitert, daß dem Reichs¬
tag in wirtschaftlichen Fragen ein festes Rückgrat fehle (Handels¬
verträge). Beide Klagen sind berechtigt und werden von der
überwiegenden Mehrheit des Volkes geteilt. Auch die Männer des neuen
Kurses haben sich wiederholt darüber beschwert, daß das Fraktionsinteresse
im Reichstage das nationale Interesse überwiege. So berechtigt aber diese
Klagen an und für sich sind, so unberechtigt würde es sein, die Reichstags-
mitglicder dafür verantwortlich zu machen. Der Grund liegt nicht in den
Personen, sondern in der Einrichtung. So lange diese nicht geändert wird,
werden die Klagen nicht aufhören.

Europa steht heute in dem Zeichen der sozialen und wirtschaftlichen Fragen.
Die politischen Fragen waren der Traum unsrer politischen Kinderjahre.
Sie sind vom Volke längst in den Rumpelkasten geworfen worden, in den
sie gehören. Denn die Erfahrung aller Kulturstaaten hat den unwiderleglicher
Beweis geführt, daß das Wohl der Völker nicht von politischen Formen und
von Verfasfuiigsfragen abhängt. Nur in unsern Volksvertretungen spielt der


Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

Flügel führenden Hauptthores zugestanden. In dem von ihm selbst bewohnten
Teile des Palastes hat der Kaiser aber noch keinen Ausländer empfangen. Die
nächste Audienz wird möglicherweise dem Nachfolger des jetzigen deutschen Ge¬
sandten erteilt werden, weil Herr von Brandt im Frühling leider seinen Ab¬
schied nehmen will.

Wenn der neue Gesandte ein paar Kriegsschiffe mit hierher bringen
könnte, so würde sich jeder Deutsche in Ostasien darüber freuen. Es mich
immer wieder auf die höchst ungenügende hier stationirte deutsche Marinemacht
hingewiesen werden. Von unsern beiden Kanoueubovteu überwintert eins ge¬
wöhnlich in Tientsin, sodaß dann mehrere Monate nur ein einziges kleines
Kriegsschiff wirklich verwendbar ist. Dies ist in unruhigen Zeiten, die leicht
einmal wieder eintreten können, viel zu wenig zur nachdrücklichen Wahrung
der großen Handelsinteressen, die das deutsche Reich in Ostasien zu vertreten
hat. Übergroße Sparsamkeit könnte sich hier einmal bitter rächen.




Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage
(Schlich)

ürst Bismarck hat den Reichstag oft und bitter angeklagt, daß
in ihm das Fraktionsinteresse jedes andre überwiege. Neuer¬
dings hat er seine Klagen noch dahin erweitert, daß dem Reichs¬
tag in wirtschaftlichen Fragen ein festes Rückgrat fehle (Handels¬
verträge). Beide Klagen sind berechtigt und werden von der
überwiegenden Mehrheit des Volkes geteilt. Auch die Männer des neuen
Kurses haben sich wiederholt darüber beschwert, daß das Fraktionsinteresse
im Reichstage das nationale Interesse überwiege. So berechtigt aber diese
Klagen an und für sich sind, so unberechtigt würde es sein, die Reichstags-
mitglicder dafür verantwortlich zu machen. Der Grund liegt nicht in den
Personen, sondern in der Einrichtung. So lange diese nicht geändert wird,
werden die Klagen nicht aufhören.

Europa steht heute in dem Zeichen der sozialen und wirtschaftlichen Fragen.
Die politischen Fragen waren der Traum unsrer politischen Kinderjahre.
Sie sind vom Volke längst in den Rumpelkasten geworfen worden, in den
sie gehören. Denn die Erfahrung aller Kulturstaaten hat den unwiderleglicher
Beweis geführt, daß das Wohl der Völker nicht von politischen Formen und
von Verfasfuiigsfragen abhängt. Nur in unsern Volksvertretungen spielt der


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[0162] Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage Flügel führenden Hauptthores zugestanden. In dem von ihm selbst bewohnten Teile des Palastes hat der Kaiser aber noch keinen Ausländer empfangen. Die nächste Audienz wird möglicherweise dem Nachfolger des jetzigen deutschen Ge¬ sandten erteilt werden, weil Herr von Brandt im Frühling leider seinen Ab¬ schied nehmen will. Wenn der neue Gesandte ein paar Kriegsschiffe mit hierher bringen könnte, so würde sich jeder Deutsche in Ostasien darüber freuen. Es mich immer wieder auf die höchst ungenügende hier stationirte deutsche Marinemacht hingewiesen werden. Von unsern beiden Kanoueubovteu überwintert eins ge¬ wöhnlich in Tientsin, sodaß dann mehrere Monate nur ein einziges kleines Kriegsschiff wirklich verwendbar ist. Dies ist in unruhigen Zeiten, die leicht einmal wieder eintreten können, viel zu wenig zur nachdrücklichen Wahrung der großen Handelsinteressen, die das deutsche Reich in Ostasien zu vertreten hat. Übergroße Sparsamkeit könnte sich hier einmal bitter rächen. Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage (Schlich) ürst Bismarck hat den Reichstag oft und bitter angeklagt, daß in ihm das Fraktionsinteresse jedes andre überwiege. Neuer¬ dings hat er seine Klagen noch dahin erweitert, daß dem Reichs¬ tag in wirtschaftlichen Fragen ein festes Rückgrat fehle (Handels¬ verträge). Beide Klagen sind berechtigt und werden von der überwiegenden Mehrheit des Volkes geteilt. Auch die Männer des neuen Kurses haben sich wiederholt darüber beschwert, daß das Fraktionsinteresse im Reichstage das nationale Interesse überwiege. So berechtigt aber diese Klagen an und für sich sind, so unberechtigt würde es sein, die Reichstags- mitglicder dafür verantwortlich zu machen. Der Grund liegt nicht in den Personen, sondern in der Einrichtung. So lange diese nicht geändert wird, werden die Klagen nicht aufhören. Europa steht heute in dem Zeichen der sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Die politischen Fragen waren der Traum unsrer politischen Kinderjahre. Sie sind vom Volke längst in den Rumpelkasten geworfen worden, in den sie gehören. Denn die Erfahrung aller Kulturstaaten hat den unwiderleglicher Beweis geführt, daß das Wohl der Völker nicht von politischen Formen und von Verfasfuiigsfragen abhängt. Nur in unsern Volksvertretungen spielt der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/162>, abgerufen am 06.05.2024.