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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

schimmernden Flor, und die Augen, die vorher grün gewesen waren, glänzten
groß und tiefdunkel unter der Hülle des Schleiers. Endlich lag das wunder¬
same Geschöpf, zu menschlicher Gestalt verändert, ruhig da; nur die schnell sich
hebende und senkende Brust zeugte von dem geheimnisvollen Kampfe der Natur,
der hier stattgefunden hatte.

Justus war neben der Verwandelten niedergekniet. Da regte sich die
Hülle, eine kleine weiße Hand kam zum Vorschein und zog den Schleier vom
Antlitz' Es war ein herrliches Mädchenantlitz, das der junge Gelehrte er¬
blickte, aber um die schmalen, roten Lippen lag ein Zug bittern Leidens und
harter Entbehrung.

Süßes Mädchen, sagte er, bist du gekommen, um mir das Glück zu
bringen, nach dem ich mich so lange sehne? Willst du die gütige Fee sein, die
über meinen Wegen wacht und aus diesen stillen Räumen einen Palast zaubert,
so schön wie noch kein Fürst einen besessen? Komm, laß mich dich in meine
Arme schließen, ich wußte es längst, daß du ein wunderbares menschliches Wesen
seiest, ich hatte es wohl bemerkt, daß du meine Bücher gern hattest, und daß
du Arabisch zu lesen verstandest! Komm in meine Arme, du holdseliges
Geschöpf!

Das Mädchen seufzte tief und machte eine abwehrende Bewegung. Wenn
dir mein Glück lieb ist, sagte sie in wohlklingenden Arabisch, so rühre mich
nicht an! Laß mich noch einige Minuten schlummern, dann will ich dir die
Erklärung geben zu allem, was du gesehen hast!

Sie schwieg und schloß die Augen. Ihr zarter Körper schien in der That
nnter der Anstrengung der Metamorphose unsäglich gelitten zu haben. Justus
fand Zeit, sich von dem Schrecken, der ihn bei dem rätselhaften Vorgange be¬
fallen hatte, zu erholen und nach einer Erklärung zu suchen. Er trat ans
Fenster und blickte aus den Markt hinunter, um sich davon zu überzeugen,
daß er auch nicht geträumt habe. Aber unten ging alles seinen gewohnten
Gang. Leute, die wieder an ihr Geschäft eilten, schritten am Marktplatze vor¬
über, und dort am golouen Brunnen stand wie immer die alte Blumenhändlerin
und pries den Vorübergehenden ihre Harlemer Tulpenzwiebeln an.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Stnmmbaumeifer.

Es ist eine erfreuliche Erscheinung, dnß in unsern
Bürgerkreiseu das Interesse sür Familiengeschichte zunimmt, und die Grenzboten
können sich wohl rühmen, durch den Aufsatz: "Zeichnet Stammbtiume!", den sie


Maßgebliches und Unmaßgebliches

schimmernden Flor, und die Augen, die vorher grün gewesen waren, glänzten
groß und tiefdunkel unter der Hülle des Schleiers. Endlich lag das wunder¬
same Geschöpf, zu menschlicher Gestalt verändert, ruhig da; nur die schnell sich
hebende und senkende Brust zeugte von dem geheimnisvollen Kampfe der Natur,
der hier stattgefunden hatte.

Justus war neben der Verwandelten niedergekniet. Da regte sich die
Hülle, eine kleine weiße Hand kam zum Vorschein und zog den Schleier vom
Antlitz' Es war ein herrliches Mädchenantlitz, das der junge Gelehrte er¬
blickte, aber um die schmalen, roten Lippen lag ein Zug bittern Leidens und
harter Entbehrung.

Süßes Mädchen, sagte er, bist du gekommen, um mir das Glück zu
bringen, nach dem ich mich so lange sehne? Willst du die gütige Fee sein, die
über meinen Wegen wacht und aus diesen stillen Räumen einen Palast zaubert,
so schön wie noch kein Fürst einen besessen? Komm, laß mich dich in meine
Arme schließen, ich wußte es längst, daß du ein wunderbares menschliches Wesen
seiest, ich hatte es wohl bemerkt, daß du meine Bücher gern hattest, und daß
du Arabisch zu lesen verstandest! Komm in meine Arme, du holdseliges
Geschöpf!

Das Mädchen seufzte tief und machte eine abwehrende Bewegung. Wenn
dir mein Glück lieb ist, sagte sie in wohlklingenden Arabisch, so rühre mich
nicht an! Laß mich noch einige Minuten schlummern, dann will ich dir die
Erklärung geben zu allem, was du gesehen hast!

Sie schwieg und schloß die Augen. Ihr zarter Körper schien in der That
nnter der Anstrengung der Metamorphose unsäglich gelitten zu haben. Justus
fand Zeit, sich von dem Schrecken, der ihn bei dem rätselhaften Vorgange be¬
fallen hatte, zu erholen und nach einer Erklärung zu suchen. Er trat ans
Fenster und blickte aus den Markt hinunter, um sich davon zu überzeugen,
daß er auch nicht geträumt habe. Aber unten ging alles seinen gewohnten
Gang. Leute, die wieder an ihr Geschäft eilten, schritten am Marktplatze vor¬
über, und dort am golouen Brunnen stand wie immer die alte Blumenhändlerin
und pries den Vorübergehenden ihre Harlemer Tulpenzwiebeln an.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Stnmmbaumeifer.

Es ist eine erfreuliche Erscheinung, dnß in unsern
Bürgerkreiseu das Interesse sür Familiengeschichte zunimmt, und die Grenzboten
können sich wohl rühmen, durch den Aufsatz: „Zeichnet Stammbtiume!", den sie


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[0288] Maßgebliches und Unmaßgebliches schimmernden Flor, und die Augen, die vorher grün gewesen waren, glänzten groß und tiefdunkel unter der Hülle des Schleiers. Endlich lag das wunder¬ same Geschöpf, zu menschlicher Gestalt verändert, ruhig da; nur die schnell sich hebende und senkende Brust zeugte von dem geheimnisvollen Kampfe der Natur, der hier stattgefunden hatte. Justus war neben der Verwandelten niedergekniet. Da regte sich die Hülle, eine kleine weiße Hand kam zum Vorschein und zog den Schleier vom Antlitz' Es war ein herrliches Mädchenantlitz, das der junge Gelehrte er¬ blickte, aber um die schmalen, roten Lippen lag ein Zug bittern Leidens und harter Entbehrung. Süßes Mädchen, sagte er, bist du gekommen, um mir das Glück zu bringen, nach dem ich mich so lange sehne? Willst du die gütige Fee sein, die über meinen Wegen wacht und aus diesen stillen Räumen einen Palast zaubert, so schön wie noch kein Fürst einen besessen? Komm, laß mich dich in meine Arme schließen, ich wußte es längst, daß du ein wunderbares menschliches Wesen seiest, ich hatte es wohl bemerkt, daß du meine Bücher gern hattest, und daß du Arabisch zu lesen verstandest! Komm in meine Arme, du holdseliges Geschöpf! Das Mädchen seufzte tief und machte eine abwehrende Bewegung. Wenn dir mein Glück lieb ist, sagte sie in wohlklingenden Arabisch, so rühre mich nicht an! Laß mich noch einige Minuten schlummern, dann will ich dir die Erklärung geben zu allem, was du gesehen hast! Sie schwieg und schloß die Augen. Ihr zarter Körper schien in der That nnter der Anstrengung der Metamorphose unsäglich gelitten zu haben. Justus fand Zeit, sich von dem Schrecken, der ihn bei dem rätselhaften Vorgange be¬ fallen hatte, zu erholen und nach einer Erklärung zu suchen. Er trat ans Fenster und blickte aus den Markt hinunter, um sich davon zu überzeugen, daß er auch nicht geträumt habe. Aber unten ging alles seinen gewohnten Gang. Leute, die wieder an ihr Geschäft eilten, schritten am Marktplatze vor¬ über, und dort am golouen Brunnen stand wie immer die alte Blumenhändlerin und pries den Vorübergehenden ihre Harlemer Tulpenzwiebeln an. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Der Stnmmbaumeifer. Es ist eine erfreuliche Erscheinung, dnß in unsern Bürgerkreiseu das Interesse sür Familiengeschichte zunimmt, und die Grenzboten können sich wohl rühmen, durch den Aufsatz: „Zeichnet Stammbtiume!", den sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/288>, abgerufen am 06.05.2024.