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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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bei weitem großartiger. Auch finden wir nicht, dnß Deutschland nus dem Sansibar¬
vertrage den Nutzen gezogen hätte, der uns in Aussicht gestellt worden war. So¬
viel wir sehen können, sind bisher alle Vorteile auf englischer Seite geblieben.
Bei einem großen, allgemein europäischen Konflikt gehört es zu den wichtigsten
Aufgaben Englands, die Pforte in einer Richtung zu erhalten, die unsern Gegnern,
namentlich aber Rußland, keine Vorteile bietet. Im Angenblick scheint aber der
englische Einfluß, dank der nörgelnden englischen Interessenpolitik, vor dem fran¬
zösischen und russischen ganz zurückzutreten. Auch damit ist dem Frieden schlecht
gedient.

Ziehen wir die Summe unsrer Betrachtungen, so scheint uns der Friede der
Welt in der That an der Verstärkung der deutschen Wehrkraft in dem von unsrer
Regierung geplanten Sinne zu hängen. Unerläßlich scheint uns aber zugleich eine
entsprechende Haltung unsrer Verbündeten, vor allem Österreich-Ungarns und Eng¬
lands.


Gute Philologen, schlechte Pädagogen.

Es giebt eine kleine lateinische
Grammatik von Müller und Lattmann, die sich durch eigentümliche und geistreiche
Fassung der Regeln so vorteilhaft auszeichnet, daß ich sie voller Frende dem Ele¬
mentarunterricht zu Grunde legen wollte. Aber als Paradigma für die Depo¬
nentia der vierten Konjugation ist das Wort -- mentiri gewählt! Wenn also der
Lehrer dieses Deponens einüben will, so bewegt sich Frage und Antwort in den
Ausdrücken: ich lüge, ich habe gelogen, ich werde lügen, wir müssen lügen, ihr
müßt lügen, lüge, laßt uns lügen u. s. w. Ich bin entsetzt! Das Lügen ist in
meinen Angen überhaupt und zumal bei Kindern etwas so abscheuliches, daß die
Kinder schon ans dem Ton, mit dem der Lehrer das Wort spricht, und aus seiner
Miene merken müssen, welchen Abscheu er vor der Lüge hat. Hier stumpft das
Lehrbuch und der Lehrer das sittliche Gefühl der Kinder gegen das häßliche Wort
und die häßliche Sache geradezu ab. Dies eine Wort hielt mich von dem Ge¬
brauche des sonst trefflichen Buches zurück.

Für den Elementarunterricht im Lateinischen ist ein Buch von Bonnell be¬
stimmt. Ich las den ersten Satz: NuWö sunt ava,s. Und dann: vWanära, ot
I'olyxöiM siÄnt Wa,g?iia,mi. Also für neunjährige Kinderköpfe soll es eine passende
Geistesnahrung sein, wenn sie hören und lesen: Die Musen sind Göttinnen! Ob
sich der Verfasser wohl je die Frage vorgelegt hat, was die Kleinen damit an¬
fangen, sich dabei denken sollen und können? Und wenn sich der Lehrer eine Viertel¬
stunde lang abquält, den Kindern das Verständnis des Satzes beizubringen: ge¬
lingen wird es ihm schwerlich; es bleiben den Kindern doch inhaltsleere Worte.
Es könnten ebenso gut Beispiele aus dem Chinesischen gewählt werden. Nun, der
Satz von der Kassandrn ist ja für die Kleinen so gut wie chinesisch.

Nach alledem dürfte wohl die Bitte gerechtfertigt sein, die gelehrten Herren
Philologen kümmerten sich ein wenig um Pädagogik und bedächten, für wen und
für welche Fassungskraft sie ihre Bücher machen.




bei weitem großartiger. Auch finden wir nicht, dnß Deutschland nus dem Sansibar¬
vertrage den Nutzen gezogen hätte, der uns in Aussicht gestellt worden war. So¬
viel wir sehen können, sind bisher alle Vorteile auf englischer Seite geblieben.
Bei einem großen, allgemein europäischen Konflikt gehört es zu den wichtigsten
Aufgaben Englands, die Pforte in einer Richtung zu erhalten, die unsern Gegnern,
namentlich aber Rußland, keine Vorteile bietet. Im Angenblick scheint aber der
englische Einfluß, dank der nörgelnden englischen Interessenpolitik, vor dem fran¬
zösischen und russischen ganz zurückzutreten. Auch damit ist dem Frieden schlecht
gedient.

Ziehen wir die Summe unsrer Betrachtungen, so scheint uns der Friede der
Welt in der That an der Verstärkung der deutschen Wehrkraft in dem von unsrer
Regierung geplanten Sinne zu hängen. Unerläßlich scheint uns aber zugleich eine
entsprechende Haltung unsrer Verbündeten, vor allem Österreich-Ungarns und Eng¬
lands.


Gute Philologen, schlechte Pädagogen.

Es giebt eine kleine lateinische
Grammatik von Müller und Lattmann, die sich durch eigentümliche und geistreiche
Fassung der Regeln so vorteilhaft auszeichnet, daß ich sie voller Frende dem Ele¬
mentarunterricht zu Grunde legen wollte. Aber als Paradigma für die Depo¬
nentia der vierten Konjugation ist das Wort — mentiri gewählt! Wenn also der
Lehrer dieses Deponens einüben will, so bewegt sich Frage und Antwort in den
Ausdrücken: ich lüge, ich habe gelogen, ich werde lügen, wir müssen lügen, ihr
müßt lügen, lüge, laßt uns lügen u. s. w. Ich bin entsetzt! Das Lügen ist in
meinen Angen überhaupt und zumal bei Kindern etwas so abscheuliches, daß die
Kinder schon ans dem Ton, mit dem der Lehrer das Wort spricht, und aus seiner
Miene merken müssen, welchen Abscheu er vor der Lüge hat. Hier stumpft das
Lehrbuch und der Lehrer das sittliche Gefühl der Kinder gegen das häßliche Wort
und die häßliche Sache geradezu ab. Dies eine Wort hielt mich von dem Ge¬
brauche des sonst trefflichen Buches zurück.

Für den Elementarunterricht im Lateinischen ist ein Buch von Bonnell be¬
stimmt. Ich las den ersten Satz: NuWö sunt ava,s. Und dann: vWanära, ot
I'olyxöiM siÄnt Wa,g?iia,mi. Also für neunjährige Kinderköpfe soll es eine passende
Geistesnahrung sein, wenn sie hören und lesen: Die Musen sind Göttinnen! Ob
sich der Verfasser wohl je die Frage vorgelegt hat, was die Kleinen damit an¬
fangen, sich dabei denken sollen und können? Und wenn sich der Lehrer eine Viertel¬
stunde lang abquält, den Kindern das Verständnis des Satzes beizubringen: ge¬
lingen wird es ihm schwerlich; es bleiben den Kindern doch inhaltsleere Worte.
Es könnten ebenso gut Beispiele aus dem Chinesischen gewählt werden. Nun, der
Satz von der Kassandrn ist ja für die Kleinen so gut wie chinesisch.

Nach alledem dürfte wohl die Bitte gerechtfertigt sein, die gelehrten Herren
Philologen kümmerten sich ein wenig um Pädagogik und bedächten, für wen und
für welche Fassungskraft sie ihre Bücher machen.




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[0391] bei weitem großartiger. Auch finden wir nicht, dnß Deutschland nus dem Sansibar¬ vertrage den Nutzen gezogen hätte, der uns in Aussicht gestellt worden war. So¬ viel wir sehen können, sind bisher alle Vorteile auf englischer Seite geblieben. Bei einem großen, allgemein europäischen Konflikt gehört es zu den wichtigsten Aufgaben Englands, die Pforte in einer Richtung zu erhalten, die unsern Gegnern, namentlich aber Rußland, keine Vorteile bietet. Im Angenblick scheint aber der englische Einfluß, dank der nörgelnden englischen Interessenpolitik, vor dem fran¬ zösischen und russischen ganz zurückzutreten. Auch damit ist dem Frieden schlecht gedient. Ziehen wir die Summe unsrer Betrachtungen, so scheint uns der Friede der Welt in der That an der Verstärkung der deutschen Wehrkraft in dem von unsrer Regierung geplanten Sinne zu hängen. Unerläßlich scheint uns aber zugleich eine entsprechende Haltung unsrer Verbündeten, vor allem Österreich-Ungarns und Eng¬ lands. Gute Philologen, schlechte Pädagogen. Es giebt eine kleine lateinische Grammatik von Müller und Lattmann, die sich durch eigentümliche und geistreiche Fassung der Regeln so vorteilhaft auszeichnet, daß ich sie voller Frende dem Ele¬ mentarunterricht zu Grunde legen wollte. Aber als Paradigma für die Depo¬ nentia der vierten Konjugation ist das Wort — mentiri gewählt! Wenn also der Lehrer dieses Deponens einüben will, so bewegt sich Frage und Antwort in den Ausdrücken: ich lüge, ich habe gelogen, ich werde lügen, wir müssen lügen, ihr müßt lügen, lüge, laßt uns lügen u. s. w. Ich bin entsetzt! Das Lügen ist in meinen Angen überhaupt und zumal bei Kindern etwas so abscheuliches, daß die Kinder schon ans dem Ton, mit dem der Lehrer das Wort spricht, und aus seiner Miene merken müssen, welchen Abscheu er vor der Lüge hat. Hier stumpft das Lehrbuch und der Lehrer das sittliche Gefühl der Kinder gegen das häßliche Wort und die häßliche Sache geradezu ab. Dies eine Wort hielt mich von dem Ge¬ brauche des sonst trefflichen Buches zurück. Für den Elementarunterricht im Lateinischen ist ein Buch von Bonnell be¬ stimmt. Ich las den ersten Satz: NuWö sunt ava,s. Und dann: vWanära, ot I'olyxöiM siÄnt Wa,g?iia,mi. Also für neunjährige Kinderköpfe soll es eine passende Geistesnahrung sein, wenn sie hören und lesen: Die Musen sind Göttinnen! Ob sich der Verfasser wohl je die Frage vorgelegt hat, was die Kleinen damit an¬ fangen, sich dabei denken sollen und können? Und wenn sich der Lehrer eine Viertel¬ stunde lang abquält, den Kindern das Verständnis des Satzes beizubringen: ge¬ lingen wird es ihm schwerlich; es bleiben den Kindern doch inhaltsleere Worte. Es könnten ebenso gut Beispiele aus dem Chinesischen gewählt werden. Nun, der Satz von der Kassandrn ist ja für die Kleinen so gut wie chinesisch. Nach alledem dürfte wohl die Bitte gerechtfertigt sein, die gelehrten Herren Philologen kümmerten sich ein wenig um Pädagogik und bedächten, für wen und für welche Fassungskraft sie ihre Bücher machen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/391>, abgerufen am 06.05.2024.