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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zweijährige und einjährige Dienstpflicht
von einem Armen

er seiner Meinungsäußerung Beachtung geschenkt sehen will, ist
heutzutage wohl mehr denn je genötigt, sich vorzustellen. Denn
abgesehen davon, daß der wütende Interessenkampf der Berufs-
genossenschaften und der Parteien den Argwohn egoistischer Zwecke
in der Luft verbreitet, lehrt ja der moderne Materialismus, daß
der Mensch das Produkt seiner Lebensverhältnisse oder mindestens stark von
seinem Milieu beeinflußt sei. Nun, ich bin ein armer, sogar ein sehr armer
Mann. In meinem nun schon langjährigen Kampfe ums Dasein ist es mir
trotz zahlloser Versuche nach den verschiedensten Richtungen hin nicht gelungen,
eine meiner Bildung und Befähigung (diese natürlich nach Selbsteinschätzung!)
entsprechende Stellung zu erringen! bei einem für die Lebenshaltung gebildeter
Kreise ganz ungenügenden Einkommen haben aber doch ich und meine die
mittlere Kopfzahl schon überschreitende Familie bisher noch nicht gezwungen
gehungert oder des Schutzes gegen die Witterung entbehrt, und diese Er¬
fahrung giebt mir allen wirtschaftlichen Voranschlägen und sonstigem drohenden
Unheil zum Trotz die Zuversicht, daß die Hefe des Kelchs zu leeren uns er¬
spart bleiben werde. Diese Auskunft dürfte wohl genügen; meinen Namen,
auf den es nicht ankommen kann, erlaube man mir zu verschweigen.

Wen nun, wie mich, die Sorgen ums tägliche Brot vom Morgengrauen
bis zur Nacht bedrängen, den regen des Tages Streitfragen nicht mehr leiden¬
schaftlich auf; sein uMsu, wenn nicht etwas andres in ihm, erhält ihn un¬
parteiischer und nüchterner. Vielleicht ist es nun dem oder jenem Leser nicht
unangenehm, zu erfahren, was ein solcher Zuschauer, der sich trotzdem noch
als Patriot fühlt, von unserm gegenwärtigen Kampfe denkt, und welche Sieges¬
preise er für kampfeswert und erreichbar hält.


Grenzboten II 1393 73


Zweijährige und einjährige Dienstpflicht
von einem Armen

er seiner Meinungsäußerung Beachtung geschenkt sehen will, ist
heutzutage wohl mehr denn je genötigt, sich vorzustellen. Denn
abgesehen davon, daß der wütende Interessenkampf der Berufs-
genossenschaften und der Parteien den Argwohn egoistischer Zwecke
in der Luft verbreitet, lehrt ja der moderne Materialismus, daß
der Mensch das Produkt seiner Lebensverhältnisse oder mindestens stark von
seinem Milieu beeinflußt sei. Nun, ich bin ein armer, sogar ein sehr armer
Mann. In meinem nun schon langjährigen Kampfe ums Dasein ist es mir
trotz zahlloser Versuche nach den verschiedensten Richtungen hin nicht gelungen,
eine meiner Bildung und Befähigung (diese natürlich nach Selbsteinschätzung!)
entsprechende Stellung zu erringen! bei einem für die Lebenshaltung gebildeter
Kreise ganz ungenügenden Einkommen haben aber doch ich und meine die
mittlere Kopfzahl schon überschreitende Familie bisher noch nicht gezwungen
gehungert oder des Schutzes gegen die Witterung entbehrt, und diese Er¬
fahrung giebt mir allen wirtschaftlichen Voranschlägen und sonstigem drohenden
Unheil zum Trotz die Zuversicht, daß die Hefe des Kelchs zu leeren uns er¬
spart bleiben werde. Diese Auskunft dürfte wohl genügen; meinen Namen,
auf den es nicht ankommen kann, erlaube man mir zu verschweigen.

Wen nun, wie mich, die Sorgen ums tägliche Brot vom Morgengrauen
bis zur Nacht bedrängen, den regen des Tages Streitfragen nicht mehr leiden¬
schaftlich auf; sein uMsu, wenn nicht etwas andres in ihm, erhält ihn un¬
parteiischer und nüchterner. Vielleicht ist es nun dem oder jenem Leser nicht
unangenehm, zu erfahren, was ein solcher Zuschauer, der sich trotzdem noch
als Patriot fühlt, von unserm gegenwärtigen Kampfe denkt, und welche Sieges¬
preise er für kampfeswert und erreichbar hält.


Grenzboten II 1393 73
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[0586] [Abbildung] Zweijährige und einjährige Dienstpflicht von einem Armen er seiner Meinungsäußerung Beachtung geschenkt sehen will, ist heutzutage wohl mehr denn je genötigt, sich vorzustellen. Denn abgesehen davon, daß der wütende Interessenkampf der Berufs- genossenschaften und der Parteien den Argwohn egoistischer Zwecke in der Luft verbreitet, lehrt ja der moderne Materialismus, daß der Mensch das Produkt seiner Lebensverhältnisse oder mindestens stark von seinem Milieu beeinflußt sei. Nun, ich bin ein armer, sogar ein sehr armer Mann. In meinem nun schon langjährigen Kampfe ums Dasein ist es mir trotz zahlloser Versuche nach den verschiedensten Richtungen hin nicht gelungen, eine meiner Bildung und Befähigung (diese natürlich nach Selbsteinschätzung!) entsprechende Stellung zu erringen! bei einem für die Lebenshaltung gebildeter Kreise ganz ungenügenden Einkommen haben aber doch ich und meine die mittlere Kopfzahl schon überschreitende Familie bisher noch nicht gezwungen gehungert oder des Schutzes gegen die Witterung entbehrt, und diese Er¬ fahrung giebt mir allen wirtschaftlichen Voranschlägen und sonstigem drohenden Unheil zum Trotz die Zuversicht, daß die Hefe des Kelchs zu leeren uns er¬ spart bleiben werde. Diese Auskunft dürfte wohl genügen; meinen Namen, auf den es nicht ankommen kann, erlaube man mir zu verschweigen. Wen nun, wie mich, die Sorgen ums tägliche Brot vom Morgengrauen bis zur Nacht bedrängen, den regen des Tages Streitfragen nicht mehr leiden¬ schaftlich auf; sein uMsu, wenn nicht etwas andres in ihm, erhält ihn un¬ parteiischer und nüchterner. Vielleicht ist es nun dem oder jenem Leser nicht unangenehm, zu erfahren, was ein solcher Zuschauer, der sich trotzdem noch als Patriot fühlt, von unserm gegenwärtigen Kampfe denkt, und welche Sieges¬ preise er für kampfeswert und erreichbar hält. Grenzboten II 1393 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/586>, abgerufen am 06.05.2024.