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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Was lehren uns die Wahlen?

oller wir uns freuen oder grämen, daß die Reichstagswahlen vor¬
über sind? Ach, der Geschmack ist heutzutage gar zu verschieden;
es giebt Leute, denen das Wählen ein großes Vergnügen ist,
während andern nichts so sehr zuwider ist als neue Wahlen.
Die Sozialdemokraten, die desto bessere Geschäfte machen, je
öfter gewühlt wird, werden durch uoch so häufiges Wählen nicht ermüdet
und sind stets zu neuen Abstimmungen aufgelegt. Dagegen hört man aus
den Reihen des etwas bunt und wenig übersichtlich zusammengesetzten Heeres
ihrer Gegner von Zeit zu Zeit den Ruf erschallen, daß man müde sei und
"Nuhebedürfnis" empfinde. Man könnte ja nun für die Müdigkeit nach den
letzten Reichstagswahlen die bekannte in jedem "Hochsommer" die Parlamen¬
tarier so sehr bedrückende "Hitze" verantwortlich machen, wenn man nnr nicht
ans Erfahrung wüßte, daß nach jeder Wahl und zu jeder Jahreszeit ein
Chor von Stimmen Ruhe und Nichtsthun als die erste Bürgerpflicht em¬
pfiehlt. Die "Wahlmüdigkeit" muß also doch ihre besondern, in der Wahl
selbst liegenden Gründe haben.

Nach dem äußerlich so auffallend ruhigen Verlauf der Juniwahlen zu
urteilen, müßte eigentlich alle Welt diesmal recht fröhlich und zufrieden fein.
Ruhe wurde schon während den Wahlen von allen Stationen gemeldet, die
Paar Aufkäufe und Krawatte, die sich ereigneten, waren bedeutungslos und
konnten dem Gesamtbilde kein andres Gepräge geben. Und doch haben es die
Parteien an Agitation nicht fehlen lassen; auch die "Freisinnige Zeitung,"
deren Partei mit wenig Glück gefochten hat, hat gefunden, daß man sich
wenigstens den natürlich sehr schlimmen Vorwurf nicht zu machen brauche,
nicht genug agitirt zu haben. Sogar dem "Vorwärts," dessen Wahlspruch:
"Agitiren, erziehen, organisiren" lautet, entfuhr nach dem 15. Juni ein "Uff"


Grenzboten III 1893 19


Was lehren uns die Wahlen?

oller wir uns freuen oder grämen, daß die Reichstagswahlen vor¬
über sind? Ach, der Geschmack ist heutzutage gar zu verschieden;
es giebt Leute, denen das Wählen ein großes Vergnügen ist,
während andern nichts so sehr zuwider ist als neue Wahlen.
Die Sozialdemokraten, die desto bessere Geschäfte machen, je
öfter gewühlt wird, werden durch uoch so häufiges Wählen nicht ermüdet
und sind stets zu neuen Abstimmungen aufgelegt. Dagegen hört man aus
den Reihen des etwas bunt und wenig übersichtlich zusammengesetzten Heeres
ihrer Gegner von Zeit zu Zeit den Ruf erschallen, daß man müde sei und
„Nuhebedürfnis" empfinde. Man könnte ja nun für die Müdigkeit nach den
letzten Reichstagswahlen die bekannte in jedem „Hochsommer" die Parlamen¬
tarier so sehr bedrückende „Hitze" verantwortlich machen, wenn man nnr nicht
ans Erfahrung wüßte, daß nach jeder Wahl und zu jeder Jahreszeit ein
Chor von Stimmen Ruhe und Nichtsthun als die erste Bürgerpflicht em¬
pfiehlt. Die „Wahlmüdigkeit" muß also doch ihre besondern, in der Wahl
selbst liegenden Gründe haben.

Nach dem äußerlich so auffallend ruhigen Verlauf der Juniwahlen zu
urteilen, müßte eigentlich alle Welt diesmal recht fröhlich und zufrieden fein.
Ruhe wurde schon während den Wahlen von allen Stationen gemeldet, die
Paar Aufkäufe und Krawatte, die sich ereigneten, waren bedeutungslos und
konnten dem Gesamtbilde kein andres Gepräge geben. Und doch haben es die
Parteien an Agitation nicht fehlen lassen; auch die „Freisinnige Zeitung,"
deren Partei mit wenig Glück gefochten hat, hat gefunden, daß man sich
wenigstens den natürlich sehr schlimmen Vorwurf nicht zu machen brauche,
nicht genug agitirt zu haben. Sogar dem „Vorwärts," dessen Wahlspruch:
„Agitiren, erziehen, organisiren" lautet, entfuhr nach dem 15. Juni ein „Uff"


Grenzboten III 1893 19
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[0153] [Abbildung] Was lehren uns die Wahlen? oller wir uns freuen oder grämen, daß die Reichstagswahlen vor¬ über sind? Ach, der Geschmack ist heutzutage gar zu verschieden; es giebt Leute, denen das Wählen ein großes Vergnügen ist, während andern nichts so sehr zuwider ist als neue Wahlen. Die Sozialdemokraten, die desto bessere Geschäfte machen, je öfter gewühlt wird, werden durch uoch so häufiges Wählen nicht ermüdet und sind stets zu neuen Abstimmungen aufgelegt. Dagegen hört man aus den Reihen des etwas bunt und wenig übersichtlich zusammengesetzten Heeres ihrer Gegner von Zeit zu Zeit den Ruf erschallen, daß man müde sei und „Nuhebedürfnis" empfinde. Man könnte ja nun für die Müdigkeit nach den letzten Reichstagswahlen die bekannte in jedem „Hochsommer" die Parlamen¬ tarier so sehr bedrückende „Hitze" verantwortlich machen, wenn man nnr nicht ans Erfahrung wüßte, daß nach jeder Wahl und zu jeder Jahreszeit ein Chor von Stimmen Ruhe und Nichtsthun als die erste Bürgerpflicht em¬ pfiehlt. Die „Wahlmüdigkeit" muß also doch ihre besondern, in der Wahl selbst liegenden Gründe haben. Nach dem äußerlich so auffallend ruhigen Verlauf der Juniwahlen zu urteilen, müßte eigentlich alle Welt diesmal recht fröhlich und zufrieden fein. Ruhe wurde schon während den Wahlen von allen Stationen gemeldet, die Paar Aufkäufe und Krawatte, die sich ereigneten, waren bedeutungslos und konnten dem Gesamtbilde kein andres Gepräge geben. Und doch haben es die Parteien an Agitation nicht fehlen lassen; auch die „Freisinnige Zeitung," deren Partei mit wenig Glück gefochten hat, hat gefunden, daß man sich wenigstens den natürlich sehr schlimmen Vorwurf nicht zu machen brauche, nicht genug agitirt zu haben. Sogar dem „Vorwärts," dessen Wahlspruch: „Agitiren, erziehen, organisiren" lautet, entfuhr nach dem 15. Juni ein „Uff" Grenzboten III 1893 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/153>, abgerufen am 07.05.2024.