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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Artillerie in der Garnison steht, auch mehrere Geschütze, sind zur Stelle. Eine
kurze Anrede des höchsten anwesenden Offiziers leitet die Eidesleistung ein.
Dann folgt der Eid, gemeinsam von vielen hundert Münuern gesprochen. In
wenigen Minuten, selbst wenn in drei Sprachen geschworen werden muß, ist
alles geschehen. Jeder ist bei der Sache, Gleichgiltigkeit, Abspannung aus¬
geschlossen. Hierauf zum Schluß ein Hurra auf deu obersten Kriegsherrn.

Möchte doch unser einiges großes Vaterland das in dem jetzigen Fahneneid
noch vorhandne Denkmal politischer Zerrissenheit und religiöser Streitigkeiten
zertrümmern lind um seiner Stelle in einem gemeinsamen Fahneneid ein Denk¬
mal der Einigkeit errichten -- je eher je lieber!




Die ätherische Volksmoral im Drama
3

aß sich in Athen die Kinder der liebreichsten Behandlung erfreut
haben werden, kann mau bei einem so menschenfreundlichen
und für Anmut so empfängliche" Volke ohne weiteres annehmen.
In der That wird in der Tragödie wie in der Komödie von
Kindern und zu Kindern nie anders als in den zärtlichsten Aus¬
drücken gesprochen. Auch der dumme Bauer Strepsiades in den Wolken ist
der zärtlichste aller Väter. Als sein Pheidippidion noch ein kleiner Junge
war, hat er ihm von dem ersten Obvlvs, den er als Richtersold empfing, ein
Wägelchen gekauft, und jetzt, da der Bursch ein großer fauler Lümmel ge¬
worden ist, der abends des Vaters Geld verthut und früh in den hellen Tag
hinein schnarcht, während sich der Vater schon vor Sonnenaufgang Plage, da
weiß er nicht, wie er das Söhnlein leise und sanft genng wecken soll, um ihm
kein Unbehagen zu verursache". Solche Affenliebe war natürlich uicht Grund¬
satz oder allgemeine Sitte. Der Preis der alten strengen Kinderzucht, den
Aristophanes in den Wolken dem Anwälte des Rechts in den Mund legt, ist
wohl zu bekannt, als daß es nötig wäre, Stellen daraus anzuführen. Aber
bei der Gemütsart der Athener war es natürlich, daß sie eher durch übergroße
Milde als durch das Gegenteil fehlten. Seid getrosten Muts, sagt in dem
Rasenden Herakles des Euripides der Held zu Gattin und Kindern, die er
aus Lebensgefahr zu befreien gerade recht kommt,


Und badet eure Augen nicht in Thränen mehr!
Dn, teure Gattin, sammle dich und fasse Mut,

Grenzboten III 1893 26
Die ätherische Volksmoral im Drama

Artillerie in der Garnison steht, auch mehrere Geschütze, sind zur Stelle. Eine
kurze Anrede des höchsten anwesenden Offiziers leitet die Eidesleistung ein.
Dann folgt der Eid, gemeinsam von vielen hundert Münuern gesprochen. In
wenigen Minuten, selbst wenn in drei Sprachen geschworen werden muß, ist
alles geschehen. Jeder ist bei der Sache, Gleichgiltigkeit, Abspannung aus¬
geschlossen. Hierauf zum Schluß ein Hurra auf deu obersten Kriegsherrn.

Möchte doch unser einiges großes Vaterland das in dem jetzigen Fahneneid
noch vorhandne Denkmal politischer Zerrissenheit und religiöser Streitigkeiten
zertrümmern lind um seiner Stelle in einem gemeinsamen Fahneneid ein Denk¬
mal der Einigkeit errichten — je eher je lieber!




Die ätherische Volksmoral im Drama
3

aß sich in Athen die Kinder der liebreichsten Behandlung erfreut
haben werden, kann mau bei einem so menschenfreundlichen
und für Anmut so empfängliche« Volke ohne weiteres annehmen.
In der That wird in der Tragödie wie in der Komödie von
Kindern und zu Kindern nie anders als in den zärtlichsten Aus¬
drücken gesprochen. Auch der dumme Bauer Strepsiades in den Wolken ist
der zärtlichste aller Väter. Als sein Pheidippidion noch ein kleiner Junge
war, hat er ihm von dem ersten Obvlvs, den er als Richtersold empfing, ein
Wägelchen gekauft, und jetzt, da der Bursch ein großer fauler Lümmel ge¬
worden ist, der abends des Vaters Geld verthut und früh in den hellen Tag
hinein schnarcht, während sich der Vater schon vor Sonnenaufgang Plage, da
weiß er nicht, wie er das Söhnlein leise und sanft genng wecken soll, um ihm
kein Unbehagen zu verursache». Solche Affenliebe war natürlich uicht Grund¬
satz oder allgemeine Sitte. Der Preis der alten strengen Kinderzucht, den
Aristophanes in den Wolken dem Anwälte des Rechts in den Mund legt, ist
wohl zu bekannt, als daß es nötig wäre, Stellen daraus anzuführen. Aber
bei der Gemütsart der Athener war es natürlich, daß sie eher durch übergroße
Milde als durch das Gegenteil fehlten. Seid getrosten Muts, sagt in dem
Rasenden Herakles des Euripides der Held zu Gattin und Kindern, die er
aus Lebensgefahr zu befreien gerade recht kommt,


Und badet eure Augen nicht in Thränen mehr!
Dn, teure Gattin, sammle dich und fasse Mut,

Grenzboten III 1893 26
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[0209] Die ätherische Volksmoral im Drama Artillerie in der Garnison steht, auch mehrere Geschütze, sind zur Stelle. Eine kurze Anrede des höchsten anwesenden Offiziers leitet die Eidesleistung ein. Dann folgt der Eid, gemeinsam von vielen hundert Münuern gesprochen. In wenigen Minuten, selbst wenn in drei Sprachen geschworen werden muß, ist alles geschehen. Jeder ist bei der Sache, Gleichgiltigkeit, Abspannung aus¬ geschlossen. Hierauf zum Schluß ein Hurra auf deu obersten Kriegsherrn. Möchte doch unser einiges großes Vaterland das in dem jetzigen Fahneneid noch vorhandne Denkmal politischer Zerrissenheit und religiöser Streitigkeiten zertrümmern lind um seiner Stelle in einem gemeinsamen Fahneneid ein Denk¬ mal der Einigkeit errichten — je eher je lieber! Die ätherische Volksmoral im Drama 3 aß sich in Athen die Kinder der liebreichsten Behandlung erfreut haben werden, kann mau bei einem so menschenfreundlichen und für Anmut so empfängliche« Volke ohne weiteres annehmen. In der That wird in der Tragödie wie in der Komödie von Kindern und zu Kindern nie anders als in den zärtlichsten Aus¬ drücken gesprochen. Auch der dumme Bauer Strepsiades in den Wolken ist der zärtlichste aller Väter. Als sein Pheidippidion noch ein kleiner Junge war, hat er ihm von dem ersten Obvlvs, den er als Richtersold empfing, ein Wägelchen gekauft, und jetzt, da der Bursch ein großer fauler Lümmel ge¬ worden ist, der abends des Vaters Geld verthut und früh in den hellen Tag hinein schnarcht, während sich der Vater schon vor Sonnenaufgang Plage, da weiß er nicht, wie er das Söhnlein leise und sanft genng wecken soll, um ihm kein Unbehagen zu verursache». Solche Affenliebe war natürlich uicht Grund¬ satz oder allgemeine Sitte. Der Preis der alten strengen Kinderzucht, den Aristophanes in den Wolken dem Anwälte des Rechts in den Mund legt, ist wohl zu bekannt, als daß es nötig wäre, Stellen daraus anzuführen. Aber bei der Gemütsart der Athener war es natürlich, daß sie eher durch übergroße Milde als durch das Gegenteil fehlten. Seid getrosten Muts, sagt in dem Rasenden Herakles des Euripides der Held zu Gattin und Kindern, die er aus Lebensgefahr zu befreien gerade recht kommt, Und badet eure Augen nicht in Thränen mehr! Dn, teure Gattin, sammle dich und fasse Mut, Grenzboten III 1893 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/209>, abgerufen am 07.05.2024.