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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

hängige Staaten" nennen; wenn aber dadurch jemand zu der Vermutung ge¬
führt wurde, daß sie auch unabhängig wären, so würde er sehr irren. Die
Bezeichnung könnte auch zu dem Glauben verleiten, daß die "Eingebornen-
Staaten" nationale Staatswesen unter nationalen Fürsten wären. Und doch
ist nichts derartiges der Fall. Ihre Bevölkerung ist gleich der in den bri¬
tischen Provinzen aus ganz ungleichartigen Bestandteilen zusammengesetzt.
Dazu sind die meisten erst neuere Gründungen aus der Zeit der allgemeinen
Verwirrung nach dem Zusammenbruch des mongolischen Kaiserreichs und
werden von Dynastien regiert, die der Masse ihrer Unterthanen vollständig
als Fremde gegenüberstehen. So, um nur ein Beispiel anzuführen, herrscht
der Naismn von Haidambad, der Nachkömmling eines Vizekönigs von
Aurangzeb, der sich nach dessen Tode selbständig machte, mit Hilfe muhamme-
danischer Beamten und arabischer Söldner über eine Hindubevölkerung.

Fassen wir das Ergebnis unsrer Ausführungen nochmals zusammen, so
ist es folgendes: Weder Indien noch irgend ein Teil davon bildet ein zu¬
sammengehöriges nationales Ganze. Es fehlt an jeder physischen, geschicht¬
lichen, politischen, sozialen oder religiösen Einheit. Ein "indisches Volk," eine
"indische Nation" giebt es nicht und hat es nie gegeben. Selbst innerhalb
der Halbinsel bestehen nicht einzelne Nationen, sondern nur eine ungeheure
Anzahl isolirter Stämme und Klane, Kasten und Gilden, Sekten und frommer
Brüderschaften. Indien ist ein zur Zeit durch die englische Herrschaft ganz
äußerlich zusammengebrachtes, formloses Gewirr ungleichartiger, auseinander-
strebender Elemente.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Unser Prozeßverfahren.

Der Maler X klagt im Februar 1892 eine
Rechnung von 13 Mark 60 Pfennigen für Malerarbeiten gegen Y ein. Dieser er¬
kennt die Rechnung an, wendet aber ein, X habe durch Unvorsichtigkeit bei der
Arbeit Beschädigungen herbeigeführt, deren Ausbesserung ihn 19 Mark gekostet
habe. Hiermit wolle er ausrechnen. Er bittet daher um Abweisung der Klage.

1. In einem Termin vom 19. März 1892 erkennt das Amtsgericht, daß Y
dem X die 13 Mark 60 Pfennig nebst 6 Prozent Zinsen zu zahlen und die Kosten
zu tragen habe. Da die Klagfordernng lignid ist, verweist es die erst noch zu
erweisende Gegenforderung nach 8 136 Ur. 2 der Zivilproßordnung zu einem be¬
sondern Prozeß.

2. D legt hiergegen Berufung ein. Das Landgericht weist durch Urteil vom
15. Juni 1892 die Berufung zurück, unter Verurteilung des Y in die Kosten
dieser Instanz. Es bemerkt: Die Verweisung der Gegenforderung zu einem be-


Grenzboten III 1893 36
Maßgebliches und Unmaßgebliches

hängige Staaten" nennen; wenn aber dadurch jemand zu der Vermutung ge¬
führt wurde, daß sie auch unabhängig wären, so würde er sehr irren. Die
Bezeichnung könnte auch zu dem Glauben verleiten, daß die „Eingebornen-
Staaten" nationale Staatswesen unter nationalen Fürsten wären. Und doch
ist nichts derartiges der Fall. Ihre Bevölkerung ist gleich der in den bri¬
tischen Provinzen aus ganz ungleichartigen Bestandteilen zusammengesetzt.
Dazu sind die meisten erst neuere Gründungen aus der Zeit der allgemeinen
Verwirrung nach dem Zusammenbruch des mongolischen Kaiserreichs und
werden von Dynastien regiert, die der Masse ihrer Unterthanen vollständig
als Fremde gegenüberstehen. So, um nur ein Beispiel anzuführen, herrscht
der Naismn von Haidambad, der Nachkömmling eines Vizekönigs von
Aurangzeb, der sich nach dessen Tode selbständig machte, mit Hilfe muhamme-
danischer Beamten und arabischer Söldner über eine Hindubevölkerung.

Fassen wir das Ergebnis unsrer Ausführungen nochmals zusammen, so
ist es folgendes: Weder Indien noch irgend ein Teil davon bildet ein zu¬
sammengehöriges nationales Ganze. Es fehlt an jeder physischen, geschicht¬
lichen, politischen, sozialen oder religiösen Einheit. Ein „indisches Volk," eine
„indische Nation" giebt es nicht und hat es nie gegeben. Selbst innerhalb
der Halbinsel bestehen nicht einzelne Nationen, sondern nur eine ungeheure
Anzahl isolirter Stämme und Klane, Kasten und Gilden, Sekten und frommer
Brüderschaften. Indien ist ein zur Zeit durch die englische Herrschaft ganz
äußerlich zusammengebrachtes, formloses Gewirr ungleichartiger, auseinander-
strebender Elemente.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Unser Prozeßverfahren.

Der Maler X klagt im Februar 1892 eine
Rechnung von 13 Mark 60 Pfennigen für Malerarbeiten gegen Y ein. Dieser er¬
kennt die Rechnung an, wendet aber ein, X habe durch Unvorsichtigkeit bei der
Arbeit Beschädigungen herbeigeführt, deren Ausbesserung ihn 19 Mark gekostet
habe. Hiermit wolle er ausrechnen. Er bittet daher um Abweisung der Klage.

1. In einem Termin vom 19. März 1892 erkennt das Amtsgericht, daß Y
dem X die 13 Mark 60 Pfennig nebst 6 Prozent Zinsen zu zahlen und die Kosten
zu tragen habe. Da die Klagfordernng lignid ist, verweist es die erst noch zu
erweisende Gegenforderung nach 8 136 Ur. 2 der Zivilproßordnung zu einem be¬
sondern Prozeß.

2. D legt hiergegen Berufung ein. Das Landgericht weist durch Urteil vom
15. Juni 1892 die Berufung zurück, unter Verurteilung des Y in die Kosten
dieser Instanz. Es bemerkt: Die Verweisung der Gegenforderung zu einem be-


Grenzboten III 1893 36
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[0289] Maßgebliches und Unmaßgebliches hängige Staaten" nennen; wenn aber dadurch jemand zu der Vermutung ge¬ führt wurde, daß sie auch unabhängig wären, so würde er sehr irren. Die Bezeichnung könnte auch zu dem Glauben verleiten, daß die „Eingebornen- Staaten" nationale Staatswesen unter nationalen Fürsten wären. Und doch ist nichts derartiges der Fall. Ihre Bevölkerung ist gleich der in den bri¬ tischen Provinzen aus ganz ungleichartigen Bestandteilen zusammengesetzt. Dazu sind die meisten erst neuere Gründungen aus der Zeit der allgemeinen Verwirrung nach dem Zusammenbruch des mongolischen Kaiserreichs und werden von Dynastien regiert, die der Masse ihrer Unterthanen vollständig als Fremde gegenüberstehen. So, um nur ein Beispiel anzuführen, herrscht der Naismn von Haidambad, der Nachkömmling eines Vizekönigs von Aurangzeb, der sich nach dessen Tode selbständig machte, mit Hilfe muhamme- danischer Beamten und arabischer Söldner über eine Hindubevölkerung. Fassen wir das Ergebnis unsrer Ausführungen nochmals zusammen, so ist es folgendes: Weder Indien noch irgend ein Teil davon bildet ein zu¬ sammengehöriges nationales Ganze. Es fehlt an jeder physischen, geschicht¬ lichen, politischen, sozialen oder religiösen Einheit. Ein „indisches Volk," eine „indische Nation" giebt es nicht und hat es nie gegeben. Selbst innerhalb der Halbinsel bestehen nicht einzelne Nationen, sondern nur eine ungeheure Anzahl isolirter Stämme und Klane, Kasten und Gilden, Sekten und frommer Brüderschaften. Indien ist ein zur Zeit durch die englische Herrschaft ganz äußerlich zusammengebrachtes, formloses Gewirr ungleichartiger, auseinander- strebender Elemente. Maßgebliches und Unmaßgebliches Unser Prozeßverfahren. Der Maler X klagt im Februar 1892 eine Rechnung von 13 Mark 60 Pfennigen für Malerarbeiten gegen Y ein. Dieser er¬ kennt die Rechnung an, wendet aber ein, X habe durch Unvorsichtigkeit bei der Arbeit Beschädigungen herbeigeführt, deren Ausbesserung ihn 19 Mark gekostet habe. Hiermit wolle er ausrechnen. Er bittet daher um Abweisung der Klage. 1. In einem Termin vom 19. März 1892 erkennt das Amtsgericht, daß Y dem X die 13 Mark 60 Pfennig nebst 6 Prozent Zinsen zu zahlen und die Kosten zu tragen habe. Da die Klagfordernng lignid ist, verweist es die erst noch zu erweisende Gegenforderung nach 8 136 Ur. 2 der Zivilproßordnung zu einem be¬ sondern Prozeß. 2. D legt hiergegen Berufung ein. Das Landgericht weist durch Urteil vom 15. Juni 1892 die Berufung zurück, unter Verurteilung des Y in die Kosten dieser Instanz. Es bemerkt: Die Verweisung der Gegenforderung zu einem be- Grenzboten III 1893 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/289>, abgerufen am 08.05.2024.