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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Unsre Bildung

es gehe Wohl nicht fehl, lieber Leser, wenn ich annehme, daß Sie
sich mit einem gewissen Stolze zur Klasse der Gebildeten zählen.
Auch liegt mir nichts ferner, als zu bezweifeln, das; Sie dies mit
Recht thun. Aber haben Sie sich den Gegenstand Ihres Stolzes
schon einmal näher angesehen? Können Sie mir sagen, was Bil¬
dung ist? Nein? Nun, das Nächstliegende sieht man sich ja
selten näher an, und bei den Wörtern auf -ung ist es durchweg schwer zu
sagen, was sie bedeuten. Fragen wir also lieber, wer sind, oder nein, wer
nennt sich die Gebildeten? Das thun sonder Zweifel alle die Leute, die vom
Kuponabschneiden oder vom Ertrag ihrer Kopfarbeit leben. Im Gegensatz
dazu nennen sie ungebildet die Leute, die sich den Lebensunterhalt dnrch ihrer
Hände Arbeit verdienen. Sie sehen, diese Unterscheidung ist dürftig, denn
das Kuponabschneiden ist unbestreitbar auch eine Handarbeit. Und dann --
wie kann der Kopf ohne die Hand nud die Hand ohne den Kopf arbeiten?
Und doch macht man den Unterschied! Aber es ist ja nicht nötig, daß wir
das Wesen der Bildung auf dem Wege reinen Denkens ergründen, ver¬
suchen wir es lieber mit der empirischen Methode: "an ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen." Sehen wir uns einige Früchte moderner Bildung an,
zwanglos, zusammenhanglos, wies gerade kommt.

Also bitte, treten Sie mit mir in ein Kupee dritter Klasse ein. Das ist
ja der Ort, wo die überwiegende Menge der durchschnittlichen Bildung ver¬
frachtet wird. Es sind nur noch zwei Plätze frei. Auf die lassen wir uns
so behutsam wie möglich nieder. Trotzdem werfen uns unsre geehrten Mit¬
reisenden Blicke zu, die unzweideutig fragen: Konnten Sie nicht eben so gut
anderswo einsteigen? Sie erkundigen sich bei Ihrem Nachbar teilnehmend,
wohin er zu reisen gedenke. Der brummt eine kurze Antwort, deren tiefern
Sinn Ihnen welterfahrne Leute also kvmmentircn würden:^ Wie können Sie
nur so unverschämt sein, sich um mich zu kümmern? Lassen Sie mich ge¬
fälligst in Ruhe! Eine Dame hat die Hände über ihrer Reisetasche gefaltet,
die sie zum Ärger ihres Gegenübers auf dem Schoß hält, obgleich die
menschenfreundliche Vahuverwnltung Netze fürs Gepäck hat anbringen lassen;
sie sieht dabei starr zum Fenster hinaus, obgleich dort nicht das geringste zu
bemerken ist, das der Beachtung wert wäre. Ein dicker Herr verspeist ein
kaltes Kotelett aus einer weißen Papierdüte und macht bei jedem Biß die
Ellenbogen so breit, daß sich seine Nachbarn ängstlich zur Seite drücken. Ihm
gegenüber kramt ein andrer Herr in seinem Koffer, der einen höchst ver¬
wickelten Geruch ausströmt, aus dem Sie vergebens klug zu werden suchen.
Jetzt ist der Dicke fertig und wischt sich den Mund, der andre klappt seinen




Unsre Bildung

es gehe Wohl nicht fehl, lieber Leser, wenn ich annehme, daß Sie
sich mit einem gewissen Stolze zur Klasse der Gebildeten zählen.
Auch liegt mir nichts ferner, als zu bezweifeln, das; Sie dies mit
Recht thun. Aber haben Sie sich den Gegenstand Ihres Stolzes
schon einmal näher angesehen? Können Sie mir sagen, was Bil¬
dung ist? Nein? Nun, das Nächstliegende sieht man sich ja
selten näher an, und bei den Wörtern auf -ung ist es durchweg schwer zu
sagen, was sie bedeuten. Fragen wir also lieber, wer sind, oder nein, wer
nennt sich die Gebildeten? Das thun sonder Zweifel alle die Leute, die vom
Kuponabschneiden oder vom Ertrag ihrer Kopfarbeit leben. Im Gegensatz
dazu nennen sie ungebildet die Leute, die sich den Lebensunterhalt dnrch ihrer
Hände Arbeit verdienen. Sie sehen, diese Unterscheidung ist dürftig, denn
das Kuponabschneiden ist unbestreitbar auch eine Handarbeit. Und dann —
wie kann der Kopf ohne die Hand nud die Hand ohne den Kopf arbeiten?
Und doch macht man den Unterschied! Aber es ist ja nicht nötig, daß wir
das Wesen der Bildung auf dem Wege reinen Denkens ergründen, ver¬
suchen wir es lieber mit der empirischen Methode: „an ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen." Sehen wir uns einige Früchte moderner Bildung an,
zwanglos, zusammenhanglos, wies gerade kommt.

Also bitte, treten Sie mit mir in ein Kupee dritter Klasse ein. Das ist
ja der Ort, wo die überwiegende Menge der durchschnittlichen Bildung ver¬
frachtet wird. Es sind nur noch zwei Plätze frei. Auf die lassen wir uns
so behutsam wie möglich nieder. Trotzdem werfen uns unsre geehrten Mit¬
reisenden Blicke zu, die unzweideutig fragen: Konnten Sie nicht eben so gut
anderswo einsteigen? Sie erkundigen sich bei Ihrem Nachbar teilnehmend,
wohin er zu reisen gedenke. Der brummt eine kurze Antwort, deren tiefern
Sinn Ihnen welterfahrne Leute also kvmmentircn würden:^ Wie können Sie
nur so unverschämt sein, sich um mich zu kümmern? Lassen Sie mich ge¬
fälligst in Ruhe! Eine Dame hat die Hände über ihrer Reisetasche gefaltet,
die sie zum Ärger ihres Gegenübers auf dem Schoß hält, obgleich die
menschenfreundliche Vahuverwnltung Netze fürs Gepäck hat anbringen lassen;
sie sieht dabei starr zum Fenster hinaus, obgleich dort nicht das geringste zu
bemerken ist, das der Beachtung wert wäre. Ein dicker Herr verspeist ein
kaltes Kotelett aus einer weißen Papierdüte und macht bei jedem Biß die
Ellenbogen so breit, daß sich seine Nachbarn ängstlich zur Seite drücken. Ihm
gegenüber kramt ein andrer Herr in seinem Koffer, der einen höchst ver¬
wickelten Geruch ausströmt, aus dem Sie vergebens klug zu werden suchen.
Jetzt ist der Dicke fertig und wischt sich den Mund, der andre klappt seinen


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[0330] [Abbildung] Unsre Bildung es gehe Wohl nicht fehl, lieber Leser, wenn ich annehme, daß Sie sich mit einem gewissen Stolze zur Klasse der Gebildeten zählen. Auch liegt mir nichts ferner, als zu bezweifeln, das; Sie dies mit Recht thun. Aber haben Sie sich den Gegenstand Ihres Stolzes schon einmal näher angesehen? Können Sie mir sagen, was Bil¬ dung ist? Nein? Nun, das Nächstliegende sieht man sich ja selten näher an, und bei den Wörtern auf -ung ist es durchweg schwer zu sagen, was sie bedeuten. Fragen wir also lieber, wer sind, oder nein, wer nennt sich die Gebildeten? Das thun sonder Zweifel alle die Leute, die vom Kuponabschneiden oder vom Ertrag ihrer Kopfarbeit leben. Im Gegensatz dazu nennen sie ungebildet die Leute, die sich den Lebensunterhalt dnrch ihrer Hände Arbeit verdienen. Sie sehen, diese Unterscheidung ist dürftig, denn das Kuponabschneiden ist unbestreitbar auch eine Handarbeit. Und dann — wie kann der Kopf ohne die Hand nud die Hand ohne den Kopf arbeiten? Und doch macht man den Unterschied! Aber es ist ja nicht nötig, daß wir das Wesen der Bildung auf dem Wege reinen Denkens ergründen, ver¬ suchen wir es lieber mit der empirischen Methode: „an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Sehen wir uns einige Früchte moderner Bildung an, zwanglos, zusammenhanglos, wies gerade kommt. Also bitte, treten Sie mit mir in ein Kupee dritter Klasse ein. Das ist ja der Ort, wo die überwiegende Menge der durchschnittlichen Bildung ver¬ frachtet wird. Es sind nur noch zwei Plätze frei. Auf die lassen wir uns so behutsam wie möglich nieder. Trotzdem werfen uns unsre geehrten Mit¬ reisenden Blicke zu, die unzweideutig fragen: Konnten Sie nicht eben so gut anderswo einsteigen? Sie erkundigen sich bei Ihrem Nachbar teilnehmend, wohin er zu reisen gedenke. Der brummt eine kurze Antwort, deren tiefern Sinn Ihnen welterfahrne Leute also kvmmentircn würden:^ Wie können Sie nur so unverschämt sein, sich um mich zu kümmern? Lassen Sie mich ge¬ fälligst in Ruhe! Eine Dame hat die Hände über ihrer Reisetasche gefaltet, die sie zum Ärger ihres Gegenübers auf dem Schoß hält, obgleich die menschenfreundliche Vahuverwnltung Netze fürs Gepäck hat anbringen lassen; sie sieht dabei starr zum Fenster hinaus, obgleich dort nicht das geringste zu bemerken ist, das der Beachtung wert wäre. Ein dicker Herr verspeist ein kaltes Kotelett aus einer weißen Papierdüte und macht bei jedem Biß die Ellenbogen so breit, daß sich seine Nachbarn ängstlich zur Seite drücken. Ihm gegenüber kramt ein andrer Herr in seinem Koffer, der einen höchst ver¬ wickelten Geruch ausströmt, aus dem Sie vergebens klug zu werden suchen. Jetzt ist der Dicke fertig und wischt sich den Mund, der andre klappt seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/330>, abgerufen am 07.05.2024.