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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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breitet werden und ins Volk dringen könnten, dem mag der jetzige Zustand sehr
genehm sein. Aber unter der Firma eines guten Reichsfreundes ist er in der
That ein schlimmer Feind, beschränkt, verzopft und ganz gottverlassen.




Litteratur

An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Familienchronik von David
Sibyllinus. Leipzig, Duncker und Humblot, 1892

Mehr dramatisch-novellistisch als chronikalisch beginnt diese Erzählung im
Hause eines katholischen Prälaten in London, dem ein Jesuit irischer Abkunft seinen,
seines Ordens und Papst Leos Plan entwickelt, nach dem völligen Zerfall des
faulenden Europas die Kirche auf die über Amerika und Indien herrschende anglo-
sächsische Rasse neu zu gründen, und sie schließt mit zwei fröhlichen Hochzeiten auf
Schloß Arundel, wo die schwarze Dame umgeht. Zum Glück für den anfklärnngs-
bcdürftigen Leser sind sämtliche är^ins-lis psrson^v sehr lehrhaft, sodaß wir von
ihnen über alle Dinge im Himmel und auf Erden, über Vergangenheit, Gegen¬
wart und Zukunft, über Buddha nud Hegel, Moses und Darwin, Bismarck, Home-
rule und Rußland, Seelenwanderung, Kraft und Stoff und Suggestion gründliche
und erschöpfende Auskunft erhalten. Namentlich die ältere der beiden neuvermählten
Damen weiß als geschickter Examinator aus allen Männern, mit denen sie zu¬
sammentrifft, alles herauszulocken, was sie wissen und nicht wissen; gleich am Abend
nach der Hochzeit fragt sie ihrem Gemahl, dem Herzog von Arundel, Löcher in
den Leib, sodaß er alles von sich geben muß, was er je verschlungen hat, bis
auf die Fragmente des Sanchuniathon und die Jahreszahl 2387 v. Chr., die der
Verfasser der Atlantis für den Pharao Menes herausgerechnet hat. Als Ent¬
schuldigung für diesen ungewöhnlichen Hymenäus kann man gelten lassen, daß die
Braut vierzig, der Bräutigam über sechzig Lenze zählt. Der Jesuit hat Pech. Es
nützt ihm nichts, daß er der katholischen Fürstin Aschberg in Osterreich statt des
Mädchens, das sie geboren hat, einen Försterjungen unterschiebt und die Gouver¬
nante, seine Mitwisserin, hypnotisirt; das dumme Ding plaudert doch, und das
fürstliche Vermögen fällt an den protestantischen Zweig der Familie in Preußen.
Es nützt ihm nichts, daß er den Sohn des Herzogs von Arundel für die allein¬
seligmachende Kirche einfängt; der Gimpel stirbt, ehe er seine zehn Millionen Mark
Einkünfte erbt, die übereifriger Herren in Rom bringen ihn zu früh mit Kasteiungen
um. Die Nutzanwendung soll also wahrscheinlich sein, daß sich die römische Kirche
mit ihren Weltherrschaftsplänen verrechnen werde, und damit dürfte Sibyllinus
wohl Recht haben; es ist das Schicksal der Hierarchen, allerdings auch das aller
übrigen Sterblichen, sich beständig zu verrechnen. Übrigens ist das Büchlein, das
die Wirrnisse der Gegenwart wie im Guckkasten zeigt, ganz geeignet, dem Leser
ein Stündchen angenehmer Unterhaltung zu gewähren.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
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breitet werden und ins Volk dringen könnten, dem mag der jetzige Zustand sehr
genehm sein. Aber unter der Firma eines guten Reichsfreundes ist er in der
That ein schlimmer Feind, beschränkt, verzopft und ganz gottverlassen.




Litteratur

An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Familienchronik von David
Sibyllinus. Leipzig, Duncker und Humblot, 1892

Mehr dramatisch-novellistisch als chronikalisch beginnt diese Erzählung im
Hause eines katholischen Prälaten in London, dem ein Jesuit irischer Abkunft seinen,
seines Ordens und Papst Leos Plan entwickelt, nach dem völligen Zerfall des
faulenden Europas die Kirche auf die über Amerika und Indien herrschende anglo-
sächsische Rasse neu zu gründen, und sie schließt mit zwei fröhlichen Hochzeiten auf
Schloß Arundel, wo die schwarze Dame umgeht. Zum Glück für den anfklärnngs-
bcdürftigen Leser sind sämtliche är^ins-lis psrson^v sehr lehrhaft, sodaß wir von
ihnen über alle Dinge im Himmel und auf Erden, über Vergangenheit, Gegen¬
wart und Zukunft, über Buddha nud Hegel, Moses und Darwin, Bismarck, Home-
rule und Rußland, Seelenwanderung, Kraft und Stoff und Suggestion gründliche
und erschöpfende Auskunft erhalten. Namentlich die ältere der beiden neuvermählten
Damen weiß als geschickter Examinator aus allen Männern, mit denen sie zu¬
sammentrifft, alles herauszulocken, was sie wissen und nicht wissen; gleich am Abend
nach der Hochzeit fragt sie ihrem Gemahl, dem Herzog von Arundel, Löcher in
den Leib, sodaß er alles von sich geben muß, was er je verschlungen hat, bis
auf die Fragmente des Sanchuniathon und die Jahreszahl 2387 v. Chr., die der
Verfasser der Atlantis für den Pharao Menes herausgerechnet hat. Als Ent¬
schuldigung für diesen ungewöhnlichen Hymenäus kann man gelten lassen, daß die
Braut vierzig, der Bräutigam über sechzig Lenze zählt. Der Jesuit hat Pech. Es
nützt ihm nichts, daß er der katholischen Fürstin Aschberg in Osterreich statt des
Mädchens, das sie geboren hat, einen Försterjungen unterschiebt und die Gouver¬
nante, seine Mitwisserin, hypnotisirt; das dumme Ding plaudert doch, und das
fürstliche Vermögen fällt an den protestantischen Zweig der Familie in Preußen.
Es nützt ihm nichts, daß er den Sohn des Herzogs von Arundel für die allein¬
seligmachende Kirche einfängt; der Gimpel stirbt, ehe er seine zehn Millionen Mark
Einkünfte erbt, die übereifriger Herren in Rom bringen ihn zu früh mit Kasteiungen
um. Die Nutzanwendung soll also wahrscheinlich sein, daß sich die römische Kirche
mit ihren Weltherrschaftsplänen verrechnen werde, und damit dürfte Sibyllinus
wohl Recht haben; es ist das Schicksal der Hierarchen, allerdings auch das aller
übrigen Sterblichen, sich beständig zu verrechnen. Übrigens ist das Büchlein, das
die Wirrnisse der Gegenwart wie im Guckkasten zeigt, ganz geeignet, dem Leser
ein Stündchen angenehmer Unterhaltung zu gewähren.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0296] Litteratur breitet werden und ins Volk dringen könnten, dem mag der jetzige Zustand sehr genehm sein. Aber unter der Firma eines guten Reichsfreundes ist er in der That ein schlimmer Feind, beschränkt, verzopft und ganz gottverlassen. Litteratur An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Familienchronik von David Sibyllinus. Leipzig, Duncker und Humblot, 1892 Mehr dramatisch-novellistisch als chronikalisch beginnt diese Erzählung im Hause eines katholischen Prälaten in London, dem ein Jesuit irischer Abkunft seinen, seines Ordens und Papst Leos Plan entwickelt, nach dem völligen Zerfall des faulenden Europas die Kirche auf die über Amerika und Indien herrschende anglo- sächsische Rasse neu zu gründen, und sie schließt mit zwei fröhlichen Hochzeiten auf Schloß Arundel, wo die schwarze Dame umgeht. Zum Glück für den anfklärnngs- bcdürftigen Leser sind sämtliche är^ins-lis psrson^v sehr lehrhaft, sodaß wir von ihnen über alle Dinge im Himmel und auf Erden, über Vergangenheit, Gegen¬ wart und Zukunft, über Buddha nud Hegel, Moses und Darwin, Bismarck, Home- rule und Rußland, Seelenwanderung, Kraft und Stoff und Suggestion gründliche und erschöpfende Auskunft erhalten. Namentlich die ältere der beiden neuvermählten Damen weiß als geschickter Examinator aus allen Männern, mit denen sie zu¬ sammentrifft, alles herauszulocken, was sie wissen und nicht wissen; gleich am Abend nach der Hochzeit fragt sie ihrem Gemahl, dem Herzog von Arundel, Löcher in den Leib, sodaß er alles von sich geben muß, was er je verschlungen hat, bis auf die Fragmente des Sanchuniathon und die Jahreszahl 2387 v. Chr., die der Verfasser der Atlantis für den Pharao Menes herausgerechnet hat. Als Ent¬ schuldigung für diesen ungewöhnlichen Hymenäus kann man gelten lassen, daß die Braut vierzig, der Bräutigam über sechzig Lenze zählt. Der Jesuit hat Pech. Es nützt ihm nichts, daß er der katholischen Fürstin Aschberg in Osterreich statt des Mädchens, das sie geboren hat, einen Försterjungen unterschiebt und die Gouver¬ nante, seine Mitwisserin, hypnotisirt; das dumme Ding plaudert doch, und das fürstliche Vermögen fällt an den protestantischen Zweig der Familie in Preußen. Es nützt ihm nichts, daß er den Sohn des Herzogs von Arundel für die allein¬ seligmachende Kirche einfängt; der Gimpel stirbt, ehe er seine zehn Millionen Mark Einkünfte erbt, die übereifriger Herren in Rom bringen ihn zu früh mit Kasteiungen um. Die Nutzanwendung soll also wahrscheinlich sein, daß sich die römische Kirche mit ihren Weltherrschaftsplänen verrechnen werde, und damit dürfte Sibyllinus wohl Recht haben; es ist das Schicksal der Hierarchen, allerdings auch das aller übrigen Sterblichen, sich beständig zu verrechnen. Übrigens ist das Büchlein, das die Wirrnisse der Gegenwart wie im Guckkasten zeigt, ganz geeignet, dem Leser ein Stündchen angenehmer Unterhaltung zu gewähren. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/296>, abgerufen am 04.05.2024.