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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Bildung

losen Lehrbücher der Bildung, Konversationslexika und Fremdwörterbücher,
Kunst- und Litteraturgeschichten, die der Büchermarkt alle Jahre ans Licht
bringt; dazu bieten Wochen- und Monatsschriften jederzeit das Neueste aus
dem Reich der Bildung, samt einem fertigen Urteil darüber.

Wie ist doch die "Bildung" zu dieser erstaunlichen Geltung gekommen?
Die Sache hängt offenbar mit der großen Wandlung zusammen, die die Ge¬
sellschaft in den letzten hundert Jahren erlebt hat. Die alte ständische Gliede¬
rung in Adel, Bürger und Bauern, die aus dem Mittelalter überkommen war,
ist in Trümmer gegangen; die Gesellschaft ist aufgelockert und atomisirt, der
einzelne gilt als solcher; seine Stellung hängt uicht mehr ab von seiner Ge¬
burt, sondern von dem, was er selber hat und kaun. Besitz ist das erste, wo¬
durch sie bestimmt wird; Vermögen giebt Einfluß. Aber: nollloWk oblieg; wie
der Adel zur xolit-ssM und ecmcwlte verpflichtete, so verpflichtet die neue Ge¬
sellschaft ihre Glieder zur Bildung. Besitz ist zwar die wesentliche Grundlage,
doch macht selbst Reichtum ohne Bildung nicht ganz gesellschaftsfähig. Und
bis zu einem gewissen Grade ist Bildung sogar imstande, über den Maugel
des Besitzes hinwegzuhelfen; die "akademische Bildung" wenigstens macht in
Deutschland gesellschaftsfähig auch ohne Vermögen. Im ganzen aber gehören
Besitz und Bildung zusammen, wie es ja auch der Sprachgebrauch in der Zu¬
sammenfassung der "besitzenden und gebildeten Klassen," im Gegensatz zu deu
"arbeitenden und besitzlosen Klaffen," die auch die "ungebildeten" sind, zum
Ausdruck bringt. Jene machen die Gesellschaft aus, sie schicken ihre Kinder
in die höhern Schulen und lassen sie Einjährige oder Offiziere werden, diese
bleiben in der Volksschule und stellen die Gemeinen im Heere.

Damit glaube ich den Begriff der Bildung, wie er heutzutage im Sprach¬
gebrauch herrscht, erklärt zu haben. Ihm stellen nur nun den Begriff,
wie er sich aus der Natur der Sache ergiebt, gegenüber. Doch wollen wir
zunächst auf seiue geschichtliche Entwicklung einen Blick werfen.


2

Das Wort Bildung als Bezeichnung für eine bestimmte Gestaltung des
Innenlebens ist noch nicht alt; es beginnt erst seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts auszukommen. Die ältere Sprache braucht, wie man in Grimms
Wörterbuch nachsehen kann, die Wörter bilden, Bildner, Bildung vorzugsweise
vou der technisch-künstlerischen Formgebung, was auch der Herkunft entspricht,
wenn man mit Weigand (Deutsches Wörterbuch) das Wort Bild von einer
Wurzel M, die beHauen, glätten bedeutet (auch in Beil), herleitet. In über¬
tragner Bedeutung wird dann Bildung, Bild, von der innerlich angeschauter
Gestalt gebraucht, der Vorstellung (toe"). Sich bilden oder ausbilden wird
ferner von der allmählichen Ausgestaltung eines organischen Wesens gebraucht
und diese damit gleichsam als Thätigkeit eines immanenten künstlerischen Prin-


Grenzboten IV 1893 53
Bildung

losen Lehrbücher der Bildung, Konversationslexika und Fremdwörterbücher,
Kunst- und Litteraturgeschichten, die der Büchermarkt alle Jahre ans Licht
bringt; dazu bieten Wochen- und Monatsschriften jederzeit das Neueste aus
dem Reich der Bildung, samt einem fertigen Urteil darüber.

Wie ist doch die „Bildung" zu dieser erstaunlichen Geltung gekommen?
Die Sache hängt offenbar mit der großen Wandlung zusammen, die die Ge¬
sellschaft in den letzten hundert Jahren erlebt hat. Die alte ständische Gliede¬
rung in Adel, Bürger und Bauern, die aus dem Mittelalter überkommen war,
ist in Trümmer gegangen; die Gesellschaft ist aufgelockert und atomisirt, der
einzelne gilt als solcher; seine Stellung hängt uicht mehr ab von seiner Ge¬
burt, sondern von dem, was er selber hat und kaun. Besitz ist das erste, wo¬
durch sie bestimmt wird; Vermögen giebt Einfluß. Aber: nollloWk oblieg; wie
der Adel zur xolit-ssM und ecmcwlte verpflichtete, so verpflichtet die neue Ge¬
sellschaft ihre Glieder zur Bildung. Besitz ist zwar die wesentliche Grundlage,
doch macht selbst Reichtum ohne Bildung nicht ganz gesellschaftsfähig. Und
bis zu einem gewissen Grade ist Bildung sogar imstande, über den Maugel
des Besitzes hinwegzuhelfen; die „akademische Bildung" wenigstens macht in
Deutschland gesellschaftsfähig auch ohne Vermögen. Im ganzen aber gehören
Besitz und Bildung zusammen, wie es ja auch der Sprachgebrauch in der Zu¬
sammenfassung der „besitzenden und gebildeten Klassen," im Gegensatz zu deu
„arbeitenden und besitzlosen Klaffen," die auch die „ungebildeten" sind, zum
Ausdruck bringt. Jene machen die Gesellschaft aus, sie schicken ihre Kinder
in die höhern Schulen und lassen sie Einjährige oder Offiziere werden, diese
bleiben in der Volksschule und stellen die Gemeinen im Heere.

Damit glaube ich den Begriff der Bildung, wie er heutzutage im Sprach¬
gebrauch herrscht, erklärt zu haben. Ihm stellen nur nun den Begriff,
wie er sich aus der Natur der Sache ergiebt, gegenüber. Doch wollen wir
zunächst auf seiue geschichtliche Entwicklung einen Blick werfen.


2

Das Wort Bildung als Bezeichnung für eine bestimmte Gestaltung des
Innenlebens ist noch nicht alt; es beginnt erst seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts auszukommen. Die ältere Sprache braucht, wie man in Grimms
Wörterbuch nachsehen kann, die Wörter bilden, Bildner, Bildung vorzugsweise
vou der technisch-künstlerischen Formgebung, was auch der Herkunft entspricht,
wenn man mit Weigand (Deutsches Wörterbuch) das Wort Bild von einer
Wurzel M, die beHauen, glätten bedeutet (auch in Beil), herleitet. In über¬
tragner Bedeutung wird dann Bildung, Bild, von der innerlich angeschauter
Gestalt gebraucht, der Vorstellung (toe«). Sich bilden oder ausbilden wird
ferner von der allmählichen Ausgestaltung eines organischen Wesens gebraucht
und diese damit gleichsam als Thätigkeit eines immanenten künstlerischen Prin-


Grenzboten IV 1893 53
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[0425] Bildung losen Lehrbücher der Bildung, Konversationslexika und Fremdwörterbücher, Kunst- und Litteraturgeschichten, die der Büchermarkt alle Jahre ans Licht bringt; dazu bieten Wochen- und Monatsschriften jederzeit das Neueste aus dem Reich der Bildung, samt einem fertigen Urteil darüber. Wie ist doch die „Bildung" zu dieser erstaunlichen Geltung gekommen? Die Sache hängt offenbar mit der großen Wandlung zusammen, die die Ge¬ sellschaft in den letzten hundert Jahren erlebt hat. Die alte ständische Gliede¬ rung in Adel, Bürger und Bauern, die aus dem Mittelalter überkommen war, ist in Trümmer gegangen; die Gesellschaft ist aufgelockert und atomisirt, der einzelne gilt als solcher; seine Stellung hängt uicht mehr ab von seiner Ge¬ burt, sondern von dem, was er selber hat und kaun. Besitz ist das erste, wo¬ durch sie bestimmt wird; Vermögen giebt Einfluß. Aber: nollloWk oblieg; wie der Adel zur xolit-ssM und ecmcwlte verpflichtete, so verpflichtet die neue Ge¬ sellschaft ihre Glieder zur Bildung. Besitz ist zwar die wesentliche Grundlage, doch macht selbst Reichtum ohne Bildung nicht ganz gesellschaftsfähig. Und bis zu einem gewissen Grade ist Bildung sogar imstande, über den Maugel des Besitzes hinwegzuhelfen; die „akademische Bildung" wenigstens macht in Deutschland gesellschaftsfähig auch ohne Vermögen. Im ganzen aber gehören Besitz und Bildung zusammen, wie es ja auch der Sprachgebrauch in der Zu¬ sammenfassung der „besitzenden und gebildeten Klassen," im Gegensatz zu deu „arbeitenden und besitzlosen Klaffen," die auch die „ungebildeten" sind, zum Ausdruck bringt. Jene machen die Gesellschaft aus, sie schicken ihre Kinder in die höhern Schulen und lassen sie Einjährige oder Offiziere werden, diese bleiben in der Volksschule und stellen die Gemeinen im Heere. Damit glaube ich den Begriff der Bildung, wie er heutzutage im Sprach¬ gebrauch herrscht, erklärt zu haben. Ihm stellen nur nun den Begriff, wie er sich aus der Natur der Sache ergiebt, gegenüber. Doch wollen wir zunächst auf seiue geschichtliche Entwicklung einen Blick werfen. 2 Das Wort Bildung als Bezeichnung für eine bestimmte Gestaltung des Innenlebens ist noch nicht alt; es beginnt erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts auszukommen. Die ältere Sprache braucht, wie man in Grimms Wörterbuch nachsehen kann, die Wörter bilden, Bildner, Bildung vorzugsweise vou der technisch-künstlerischen Formgebung, was auch der Herkunft entspricht, wenn man mit Weigand (Deutsches Wörterbuch) das Wort Bild von einer Wurzel M, die beHauen, glätten bedeutet (auch in Beil), herleitet. In über¬ tragner Bedeutung wird dann Bildung, Bild, von der innerlich angeschauter Gestalt gebraucht, der Vorstellung (toe«). Sich bilden oder ausbilden wird ferner von der allmählichen Ausgestaltung eines organischen Wesens gebraucht und diese damit gleichsam als Thätigkeit eines immanenten künstlerischen Prin- Grenzboten IV 1893 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/425>, abgerufen am 04.05.2024.