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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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der Mnchtverhältnisse im Mittelmeer. Da wir schon bei cinderm Anlaß davon
in den Grenzboten gesprochen haben, mag heute davon geschwiegen werden.

Endlich und Sechstens mehren sich die Anzeichen, daß Zar Alexander III.,
der mit den Kriegsvorbereitungen zwar Ernst gemacht hat, aber den Krieg
nicht will, nicht mehr Herr der Lage in Rußland ist. Der Hof, der bisher
führte und die Schlagworte ausgab, steht heute unter dem Einfluß der in
hohem Grade erregten öffentlichen Meinung, die nach all den Vorbereitungen
nun auch einen greifbaren Erfolg verlangt, der sich mit Händen fassen, be¬
rechnen und abwägen läßt. Die Abschlagszahlungen, mit denen diese öffent¬
liche Meinung zugleich befriedigt und doch auch wieder angestachelt wurde, die
völlige Vernichtung der Selbständigkeit und Eigenart aller Grcnzprovinzen.
sind verbraucht. Das Zusammengehen mit Frankreich, das sich so langsam
vorbereitete, ist endlich auch Thatsache geworden -- nun fragt mau, was nun?

Und da tritt sofort die orientalische Frage in den Vordergrund, das
glühende Verlangen, die Scharte auszuwetzen, die sich Nußland dnrch seine
ebenso treulose wie ungeschickte Politik in Bulgarien selbst geschlagen hat. Mau
will auf diesem Boden einen großen Erfolg erringen und glaubt fertig zu sein,
ganz fo Äronixröt, wie andre Leute es auch zu sein glauben. Dabei ist jedoch
insofern eine Wandlung zum Bessern eingetreten, als die Vorstellung doch arg
erschüttert ist, daß der Weg nach Konstantinopel notwendig dnrch Berlin führen
müsse. Erstens hat mau sich überzeugt, daß es ein sehr dorniger Weg wäre,
denn aber weiß mau, daß der eigentliche Gegner nicht mehr Deutschland, sondern
England ist. Und England glaubt man auch in Rußland nicht mehr fürchten
zu müssen.

So ist die Lage. Der Leser mag sich selbst einen Vers drauf machen. Der
Erkenntnis wird sich Wohl niemand verschließen, daß, wenn auch die positiven,
friedenerhaltenden Kräfte sehr stark sind, die negativen, die ihren Vorteil von
einem Zusammenbruch des Bestehenden erwarten, jedenfalls uicht zu unter¬
schätzen sind.




Die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften

s gewinnt mehr und mehr den Anschein, als ob die Gegensätze,
die auf dem diesjährigen sozialdemokratischen Parteitage zwischen
den Führern der politischen Bewegung und den Gewerkschaften"
zu Tage getreten sind, für die sozialdemokrntische Partei von
noch größerer Bedeutung werden sollten, als die auf rein po¬
litischem Gebiet auSgefochtene Fehde mit dem staatssozialistisch angehauchten


der Mnchtverhältnisse im Mittelmeer. Da wir schon bei cinderm Anlaß davon
in den Grenzboten gesprochen haben, mag heute davon geschwiegen werden.

Endlich und Sechstens mehren sich die Anzeichen, daß Zar Alexander III.,
der mit den Kriegsvorbereitungen zwar Ernst gemacht hat, aber den Krieg
nicht will, nicht mehr Herr der Lage in Rußland ist. Der Hof, der bisher
führte und die Schlagworte ausgab, steht heute unter dem Einfluß der in
hohem Grade erregten öffentlichen Meinung, die nach all den Vorbereitungen
nun auch einen greifbaren Erfolg verlangt, der sich mit Händen fassen, be¬
rechnen und abwägen läßt. Die Abschlagszahlungen, mit denen diese öffent¬
liche Meinung zugleich befriedigt und doch auch wieder angestachelt wurde, die
völlige Vernichtung der Selbständigkeit und Eigenart aller Grcnzprovinzen.
sind verbraucht. Das Zusammengehen mit Frankreich, das sich so langsam
vorbereitete, ist endlich auch Thatsache geworden — nun fragt mau, was nun?

Und da tritt sofort die orientalische Frage in den Vordergrund, das
glühende Verlangen, die Scharte auszuwetzen, die sich Nußland dnrch seine
ebenso treulose wie ungeschickte Politik in Bulgarien selbst geschlagen hat. Mau
will auf diesem Boden einen großen Erfolg erringen und glaubt fertig zu sein,
ganz fo Äronixröt, wie andre Leute es auch zu sein glauben. Dabei ist jedoch
insofern eine Wandlung zum Bessern eingetreten, als die Vorstellung doch arg
erschüttert ist, daß der Weg nach Konstantinopel notwendig dnrch Berlin führen
müsse. Erstens hat mau sich überzeugt, daß es ein sehr dorniger Weg wäre,
denn aber weiß mau, daß der eigentliche Gegner nicht mehr Deutschland, sondern
England ist. Und England glaubt man auch in Rußland nicht mehr fürchten
zu müssen.

So ist die Lage. Der Leser mag sich selbst einen Vers drauf machen. Der
Erkenntnis wird sich Wohl niemand verschließen, daß, wenn auch die positiven,
friedenerhaltenden Kräfte sehr stark sind, die negativen, die ihren Vorteil von
einem Zusammenbruch des Bestehenden erwarten, jedenfalls uicht zu unter¬
schätzen sind.




Die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften

s gewinnt mehr und mehr den Anschein, als ob die Gegensätze,
die auf dem diesjährigen sozialdemokratischen Parteitage zwischen
den Führern der politischen Bewegung und den Gewerkschaften«
zu Tage getreten sind, für die sozialdemokrntische Partei von
noch größerer Bedeutung werden sollten, als die auf rein po¬
litischem Gebiet auSgefochtene Fehde mit dem staatssozialistisch angehauchten


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[0460] der Mnchtverhältnisse im Mittelmeer. Da wir schon bei cinderm Anlaß davon in den Grenzboten gesprochen haben, mag heute davon geschwiegen werden. Endlich und Sechstens mehren sich die Anzeichen, daß Zar Alexander III., der mit den Kriegsvorbereitungen zwar Ernst gemacht hat, aber den Krieg nicht will, nicht mehr Herr der Lage in Rußland ist. Der Hof, der bisher führte und die Schlagworte ausgab, steht heute unter dem Einfluß der in hohem Grade erregten öffentlichen Meinung, die nach all den Vorbereitungen nun auch einen greifbaren Erfolg verlangt, der sich mit Händen fassen, be¬ rechnen und abwägen läßt. Die Abschlagszahlungen, mit denen diese öffent¬ liche Meinung zugleich befriedigt und doch auch wieder angestachelt wurde, die völlige Vernichtung der Selbständigkeit und Eigenart aller Grcnzprovinzen. sind verbraucht. Das Zusammengehen mit Frankreich, das sich so langsam vorbereitete, ist endlich auch Thatsache geworden — nun fragt mau, was nun? Und da tritt sofort die orientalische Frage in den Vordergrund, das glühende Verlangen, die Scharte auszuwetzen, die sich Nußland dnrch seine ebenso treulose wie ungeschickte Politik in Bulgarien selbst geschlagen hat. Mau will auf diesem Boden einen großen Erfolg erringen und glaubt fertig zu sein, ganz fo Äronixröt, wie andre Leute es auch zu sein glauben. Dabei ist jedoch insofern eine Wandlung zum Bessern eingetreten, als die Vorstellung doch arg erschüttert ist, daß der Weg nach Konstantinopel notwendig dnrch Berlin führen müsse. Erstens hat mau sich überzeugt, daß es ein sehr dorniger Weg wäre, denn aber weiß mau, daß der eigentliche Gegner nicht mehr Deutschland, sondern England ist. Und England glaubt man auch in Rußland nicht mehr fürchten zu müssen. So ist die Lage. Der Leser mag sich selbst einen Vers drauf machen. Der Erkenntnis wird sich Wohl niemand verschließen, daß, wenn auch die positiven, friedenerhaltenden Kräfte sehr stark sind, die negativen, die ihren Vorteil von einem Zusammenbruch des Bestehenden erwarten, jedenfalls uicht zu unter¬ schätzen sind. Die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften s gewinnt mehr und mehr den Anschein, als ob die Gegensätze, die auf dem diesjährigen sozialdemokratischen Parteitage zwischen den Führern der politischen Bewegung und den Gewerkschaften« zu Tage getreten sind, für die sozialdemokrntische Partei von noch größerer Bedeutung werden sollten, als die auf rein po¬ litischem Gebiet auSgefochtene Fehde mit dem staatssozialistisch angehauchten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/460>, abgerufen am 04.05.2024.