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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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und hören kann und sogar den Mut hat, etwas nicht zu wissen. Wahre
Bildung ist innerlich bescheiden, denn sie thut sich selber schwer genug und
blüht sich nicht über dem, was andre nicht haben. Eben darum ist sie duld¬
sam gegen das Andersartige; sie freut sich, wo sie einem Eigentümlichen be¬
gegnet, wenn es echt ist, und hofft Bereicherung des eignen Wesens von ihm.
Endlich: sie macht reich, zufrieden und glücklich, sie ist ein Schatz, der, einmal
erworben, nicht verloren gehen noch ein Wert verlieren kann, denn er hat keinen
Marktwert.




Jugend
Lin Liebesdrama
Adolf Grafen von Westarp Besprochen von

s lohnt im allgemeinen nicht der Mühe-, an die Erzeugnisse der
modernen Dramatik viel Worte zu verschwenden. Aus den Strö¬
mungen des Tages geboren, leben sie meist nur für den Tag,
und ehe noch die berufsmüßigen Kunstrichter ihr Urteil abge¬
schlossen haben, sind oft die Gegenstände ihrer geistvollen Unter¬
suchung schon wieder von den Wellen nachdrängender neuer Erscheinungen
hinweggespült und in dem dunkeln Schlunde der Vergessenheit begraben.

Einzelnen dieser Stücke ist es allerdings in den letzten Jahren gelungen,
sich nicht nur für längere Zeit auf dem Spielplane ihrer Geburtsstütte zu be¬
haupten, sondern auch von dort aus einen Siegeszug über alle deutschen
Bühnen, ja sogar ins Ausland anzutreten und monatelang das Theater zu
beherrschen. Ich erinnere nur an die Sudermannschen Stücke "Die Ehre" und
"Heimat" und an Fuldas Märchendrama "Der Talisman," die zahllose Auf¬
führungen erlebt und erregte Meinungskämpfe veranlaßt haben. Solchen
Stücken gegenüber wäre es eine anziehende Aufgabe, an den Forderungen, die
die echte, reine Kunst um ein Dichterwerk stellt, zu prüfen, inwieweit der
rauschende ünßere Erfolg ihrem innern Werte entspricht. Es wäre nützlich
und dankenswert, mit der Fackel einer ehrlichen, unbestochnen Empfindung und
eines gesunden, unverdorbnen Geschmacks den großen Günstlingen der Tages¬
litteratur einmal ins Gesicht zu leuchten.

Neuerdings ist es das dreiaktige Schauspiel Jugend von Max Halbe,
das, nach der Aufnahme zu schließen, die es im Publikum und bei der Presse
gefunden hat, bestimmt zu sein scheint, sich den Erzeugnissen jener AnSerwühlteu
anzureihen. Mit seltner Einmütigkeit ist das Stück gelobt worden, und merk-


Jugend

und hören kann und sogar den Mut hat, etwas nicht zu wissen. Wahre
Bildung ist innerlich bescheiden, denn sie thut sich selber schwer genug und
blüht sich nicht über dem, was andre nicht haben. Eben darum ist sie duld¬
sam gegen das Andersartige; sie freut sich, wo sie einem Eigentümlichen be¬
gegnet, wenn es echt ist, und hofft Bereicherung des eignen Wesens von ihm.
Endlich: sie macht reich, zufrieden und glücklich, sie ist ein Schatz, der, einmal
erworben, nicht verloren gehen noch ein Wert verlieren kann, denn er hat keinen
Marktwert.




Jugend
Lin Liebesdrama
Adolf Grafen von Westarp Besprochen von

s lohnt im allgemeinen nicht der Mühe-, an die Erzeugnisse der
modernen Dramatik viel Worte zu verschwenden. Aus den Strö¬
mungen des Tages geboren, leben sie meist nur für den Tag,
und ehe noch die berufsmüßigen Kunstrichter ihr Urteil abge¬
schlossen haben, sind oft die Gegenstände ihrer geistvollen Unter¬
suchung schon wieder von den Wellen nachdrängender neuer Erscheinungen
hinweggespült und in dem dunkeln Schlunde der Vergessenheit begraben.

Einzelnen dieser Stücke ist es allerdings in den letzten Jahren gelungen,
sich nicht nur für längere Zeit auf dem Spielplane ihrer Geburtsstütte zu be¬
haupten, sondern auch von dort aus einen Siegeszug über alle deutschen
Bühnen, ja sogar ins Ausland anzutreten und monatelang das Theater zu
beherrschen. Ich erinnere nur an die Sudermannschen Stücke „Die Ehre" und
„Heimat" und an Fuldas Märchendrama „Der Talisman," die zahllose Auf¬
führungen erlebt und erregte Meinungskämpfe veranlaßt haben. Solchen
Stücken gegenüber wäre es eine anziehende Aufgabe, an den Forderungen, die
die echte, reine Kunst um ein Dichterwerk stellt, zu prüfen, inwieweit der
rauschende ünßere Erfolg ihrem innern Werte entspricht. Es wäre nützlich
und dankenswert, mit der Fackel einer ehrlichen, unbestochnen Empfindung und
eines gesunden, unverdorbnen Geschmacks den großen Günstlingen der Tages¬
litteratur einmal ins Gesicht zu leuchten.

Neuerdings ist es das dreiaktige Schauspiel Jugend von Max Halbe,
das, nach der Aufnahme zu schließen, die es im Publikum und bei der Presse
gefunden hat, bestimmt zu sein scheint, sich den Erzeugnissen jener AnSerwühlteu
anzureihen. Mit seltner Einmütigkeit ist das Stück gelobt worden, und merk-


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[0476] Jugend und hören kann und sogar den Mut hat, etwas nicht zu wissen. Wahre Bildung ist innerlich bescheiden, denn sie thut sich selber schwer genug und blüht sich nicht über dem, was andre nicht haben. Eben darum ist sie duld¬ sam gegen das Andersartige; sie freut sich, wo sie einem Eigentümlichen be¬ gegnet, wenn es echt ist, und hofft Bereicherung des eignen Wesens von ihm. Endlich: sie macht reich, zufrieden und glücklich, sie ist ein Schatz, der, einmal erworben, nicht verloren gehen noch ein Wert verlieren kann, denn er hat keinen Marktwert. Jugend Lin Liebesdrama Adolf Grafen von Westarp Besprochen von s lohnt im allgemeinen nicht der Mühe-, an die Erzeugnisse der modernen Dramatik viel Worte zu verschwenden. Aus den Strö¬ mungen des Tages geboren, leben sie meist nur für den Tag, und ehe noch die berufsmüßigen Kunstrichter ihr Urteil abge¬ schlossen haben, sind oft die Gegenstände ihrer geistvollen Unter¬ suchung schon wieder von den Wellen nachdrängender neuer Erscheinungen hinweggespült und in dem dunkeln Schlunde der Vergessenheit begraben. Einzelnen dieser Stücke ist es allerdings in den letzten Jahren gelungen, sich nicht nur für längere Zeit auf dem Spielplane ihrer Geburtsstütte zu be¬ haupten, sondern auch von dort aus einen Siegeszug über alle deutschen Bühnen, ja sogar ins Ausland anzutreten und monatelang das Theater zu beherrschen. Ich erinnere nur an die Sudermannschen Stücke „Die Ehre" und „Heimat" und an Fuldas Märchendrama „Der Talisman," die zahllose Auf¬ führungen erlebt und erregte Meinungskämpfe veranlaßt haben. Solchen Stücken gegenüber wäre es eine anziehende Aufgabe, an den Forderungen, die die echte, reine Kunst um ein Dichterwerk stellt, zu prüfen, inwieweit der rauschende ünßere Erfolg ihrem innern Werte entspricht. Es wäre nützlich und dankenswert, mit der Fackel einer ehrlichen, unbestochnen Empfindung und eines gesunden, unverdorbnen Geschmacks den großen Günstlingen der Tages¬ litteratur einmal ins Gesicht zu leuchten. Neuerdings ist es das dreiaktige Schauspiel Jugend von Max Halbe, das, nach der Aufnahme zu schließen, die es im Publikum und bei der Presse gefunden hat, bestimmt zu sein scheint, sich den Erzeugnissen jener AnSerwühlteu anzureihen. Mit seltner Einmütigkeit ist das Stück gelobt worden, und merk-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/476>, abgerufen am 04.05.2024.