Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Alte stand starr vor ihm; er beugte den Kopf vor, und wahrend erden
Musikanten ansah, nahmen seine Züge langsam einen andern Ausdruck an. Die
Wild, die sie eben noch verzerrt hatte, verging. Er machte eine Bewegung nach
dem Musikanten hin, er wollte sprechen, aber seine Lippen brachten nnr ein un¬
deutliches Stammeln hervor.

Stiefel betrachtete die verfallene Gestalt vor ihm, er merkte, wie es im Herzen
des alten Mannes arbeitete, und es kam über ihn wie ein leises Mitleid. Aber
dieses weichere Gefühl verschwand sogleich wieder, und brennender Zorn erfasste
ihn. Wieder streckte er seine Hand uach dem Vagabunden ans, der ihm in seiner
Eiternden Aufregung nahegekommen war, schüttelte ihn heftig und stieß ihn von sich.

Der Alle flog einige Schritte, rückwärts und taumelte in den Staub der strafte.
Mühsam raffte er sich wieder auf, und während er sich langsam emporrichtete,
hingen seine Augen fortwährend um dem Gesichte des Sohnes. Dieser stand un-
beweglich. Nur als der Vagabund Miene machte, sich ihm wieder zu nähern,
streckte er die Hand aus und zeigte auf die strafte.

Der Alte blieb stehen. Dann bückte er sich und hob deu Stock auf, der
'was zu seineu Füßen lag. Wieder blickte er dem Sohne ins Gesicht, kein Zug
hatte sich darin verändert. Da ballte er die Faust und wandte sich hinkend davon.

Als Wiesel zu den andern zurücktrat, öffnete Linie die Augen, und ihr Blick
traf Franz. Sie schaute ihn lange an.

Dann sagte sie mit leiser, erlöschender Stimme- Die Wandertage sind zu Ende,
Franz, ich fühle es, daß ich sterbe. Wir haben das Zeichen falsch verstanden. Ich
bin es, die fortzieht, und ich lasse dich zurück. Meine Seele zieht es hinauf in
d"s lichte Blaue über mir. Ich möchte bleiben, und must doch von dir gehe".
Aber es ist so am beste"; ich hätte doch kein Glück mehr gefunden. Ja, es ist so
">n besten. Grüfte mir alle, Vater und Mutter, sie sollen mir vergeben. Lebe Wohl,
Liebste. Gott sei mit dir.

Sie drückte ihm schwach die Hand und schloß die Augen. Die Spielleute
richteten ans Baumzweigen eine Tragbahre her, breiteten Kleidungsstücke darüber
und legten die Ohnmächtige vorsichtig darnnf. Dann trugen sie ihre Bürde langsam
dem Dorfe zu.

Nu" erhob sich anch Franz; er trat zu den Männern und bot ihnen die Hände,
d"ß sie ihn fesselten.


Wilhelm Speck


Maßgebliches und Unmaßgebliches
Nochmals die Aussichten der Neichssteucrn.

Im 47. Hefte der Grenz¬
boten ist über die Aussichten der Reichsstenern ein höchst bemerkenswerter Aufsatz
erschienen, der in mehr als einer Hinsicht geeignet ist, zu einer weitern Betrachtung
des "aktuellen" Stoffes anzuregen.

Wir stimmen dem Verfasser unbedingt darin bei, daß die Geldbednrfmsie des
Reichs irgendwie beschafft werden müssen. Auch darüber sind nur vollkommen


Der Alte stand starr vor ihm; er beugte den Kopf vor, und wahrend erden
Musikanten ansah, nahmen seine Züge langsam einen andern Ausdruck an. Die
Wild, die sie eben noch verzerrt hatte, verging. Er machte eine Bewegung nach
dem Musikanten hin, er wollte sprechen, aber seine Lippen brachten nnr ein un¬
deutliches Stammeln hervor.

Stiefel betrachtete die verfallene Gestalt vor ihm, er merkte, wie es im Herzen
des alten Mannes arbeitete, und es kam über ihn wie ein leises Mitleid. Aber
dieses weichere Gefühl verschwand sogleich wieder, und brennender Zorn erfasste
ihn. Wieder streckte er seine Hand uach dem Vagabunden ans, der ihm in seiner
Eiternden Aufregung nahegekommen war, schüttelte ihn heftig und stieß ihn von sich.

Der Alle flog einige Schritte, rückwärts und taumelte in den Staub der strafte.
Mühsam raffte er sich wieder auf, und während er sich langsam emporrichtete,
hingen seine Augen fortwährend um dem Gesichte des Sohnes. Dieser stand un-
beweglich. Nur als der Vagabund Miene machte, sich ihm wieder zu nähern,
streckte er die Hand aus und zeigte auf die strafte.

Der Alte blieb stehen. Dann bückte er sich und hob deu Stock auf, der
'was zu seineu Füßen lag. Wieder blickte er dem Sohne ins Gesicht, kein Zug
hatte sich darin verändert. Da ballte er die Faust und wandte sich hinkend davon.

Als Wiesel zu den andern zurücktrat, öffnete Linie die Augen, und ihr Blick
traf Franz. Sie schaute ihn lange an.

Dann sagte sie mit leiser, erlöschender Stimme- Die Wandertage sind zu Ende,
Franz, ich fühle es, daß ich sterbe. Wir haben das Zeichen falsch verstanden. Ich
bin es, die fortzieht, und ich lasse dich zurück. Meine Seele zieht es hinauf in
d"s lichte Blaue über mir. Ich möchte bleiben, und must doch von dir gehe«.
Aber es ist so am beste»; ich hätte doch kein Glück mehr gefunden. Ja, es ist so
">n besten. Grüfte mir alle, Vater und Mutter, sie sollen mir vergeben. Lebe Wohl,
Liebste. Gott sei mit dir.

Sie drückte ihm schwach die Hand und schloß die Augen. Die Spielleute
richteten ans Baumzweigen eine Tragbahre her, breiteten Kleidungsstücke darüber
und legten die Ohnmächtige vorsichtig darnnf. Dann trugen sie ihre Bürde langsam
dem Dorfe zu.

Nu» erhob sich anch Franz; er trat zu den Männern und bot ihnen die Hände,
d"ß sie ihn fesselten.


Wilhelm Speck


Maßgebliches und Unmaßgebliches
Nochmals die Aussichten der Neichssteucrn.

Im 47. Hefte der Grenz¬
boten ist über die Aussichten der Reichsstenern ein höchst bemerkenswerter Aufsatz
erschienen, der in mehr als einer Hinsicht geeignet ist, zu einer weitern Betrachtung
des „aktuellen" Stoffes anzuregen.

Wir stimmen dem Verfasser unbedingt darin bei, daß die Geldbednrfmsie des
Reichs irgendwie beschafft werden müssen. Auch darüber sind nur vollkommen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0597" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216321"/>
            <fw type="header" place="top"/><lb/>
            <p xml:id="ID_2346"> Der Alte stand starr vor ihm; er beugte den Kopf vor, und wahrend erden<lb/>
Musikanten ansah, nahmen seine Züge langsam einen andern Ausdruck an. Die<lb/>
Wild, die sie eben noch verzerrt hatte, verging. Er machte eine Bewegung nach<lb/>
dem Musikanten hin, er wollte sprechen, aber seine Lippen brachten nnr ein un¬<lb/>
deutliches Stammeln hervor.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2347"> Stiefel betrachtete die verfallene Gestalt vor ihm, er merkte, wie es im Herzen<lb/>
des alten Mannes arbeitete, und es kam über ihn wie ein leises Mitleid. Aber<lb/>
dieses weichere Gefühl verschwand sogleich wieder, und brennender Zorn erfasste<lb/>
ihn. Wieder streckte er seine Hand uach dem Vagabunden ans, der ihm in seiner<lb/>
Eiternden Aufregung nahegekommen war, schüttelte ihn heftig und stieß ihn von sich.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2348"> Der Alle flog einige Schritte, rückwärts und taumelte in den Staub der strafte.<lb/>
Mühsam raffte er sich wieder auf, und während er sich langsam emporrichtete,<lb/>
hingen seine Augen fortwährend um dem Gesichte des Sohnes. Dieser stand un-<lb/>
beweglich. Nur als der Vagabund Miene machte, sich ihm wieder zu nähern,<lb/>
streckte er die Hand aus und zeigte auf die strafte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2349"> Der Alte blieb stehen. Dann bückte er sich und hob deu Stock auf, der<lb/>
'was zu seineu Füßen lag. Wieder blickte er dem Sohne ins Gesicht, kein Zug<lb/>
hatte sich darin verändert. Da ballte er die Faust und wandte sich hinkend davon.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2350"> Als Wiesel zu den andern zurücktrat, öffnete Linie die Augen, und ihr Blick<lb/>
traf Franz.  Sie schaute ihn lange an.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2351"> Dann sagte sie mit leiser, erlöschender Stimme- Die Wandertage sind zu Ende,<lb/>
Franz, ich fühle es, daß ich sterbe. Wir haben das Zeichen falsch verstanden. Ich<lb/>
bin es, die fortzieht, und ich lasse dich zurück. Meine Seele zieht es hinauf in<lb/>
d"s lichte Blaue über mir. Ich möchte bleiben, und must doch von dir gehe«.<lb/>
Aber es ist so am beste»; ich hätte doch kein Glück mehr gefunden. Ja, es ist so<lb/>
"&gt;n besten. Grüfte mir alle, Vater und Mutter, sie sollen mir vergeben. Lebe Wohl,<lb/>
Liebste. Gott sei mit dir.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2352"> Sie drückte ihm schwach die Hand und schloß die Augen. Die Spielleute<lb/>
richteten ans Baumzweigen eine Tragbahre her, breiteten Kleidungsstücke darüber<lb/>
und legten die Ohnmächtige vorsichtig darnnf. Dann trugen sie ihre Bürde langsam<lb/>
dem Dorfe zu.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2353"> Nu» erhob sich anch Franz; er trat zu den Männern und bot ihnen die Hände,<lb/>
d"ß sie ihn fesselten.</p><lb/>
            <note type="byline"> Wilhelm Speck</note><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Nochmals die Aussichten der Neichssteucrn.</head>
            <p xml:id="ID_2354"> Im 47. Hefte der Grenz¬<lb/>
boten ist über die Aussichten der Reichsstenern ein höchst bemerkenswerter Aufsatz<lb/>
erschienen, der in mehr als einer Hinsicht geeignet ist, zu einer weitern Betrachtung<lb/>
des &#x201E;aktuellen" Stoffes anzuregen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2355" next="#ID_2356"> Wir stimmen dem Verfasser unbedingt darin bei, daß die Geldbednrfmsie des<lb/>
Reichs irgendwie beschafft werden müssen.  Auch darüber sind nur vollkommen</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0597] Der Alte stand starr vor ihm; er beugte den Kopf vor, und wahrend erden Musikanten ansah, nahmen seine Züge langsam einen andern Ausdruck an. Die Wild, die sie eben noch verzerrt hatte, verging. Er machte eine Bewegung nach dem Musikanten hin, er wollte sprechen, aber seine Lippen brachten nnr ein un¬ deutliches Stammeln hervor. Stiefel betrachtete die verfallene Gestalt vor ihm, er merkte, wie es im Herzen des alten Mannes arbeitete, und es kam über ihn wie ein leises Mitleid. Aber dieses weichere Gefühl verschwand sogleich wieder, und brennender Zorn erfasste ihn. Wieder streckte er seine Hand uach dem Vagabunden ans, der ihm in seiner Eiternden Aufregung nahegekommen war, schüttelte ihn heftig und stieß ihn von sich. Der Alle flog einige Schritte, rückwärts und taumelte in den Staub der strafte. Mühsam raffte er sich wieder auf, und während er sich langsam emporrichtete, hingen seine Augen fortwährend um dem Gesichte des Sohnes. Dieser stand un- beweglich. Nur als der Vagabund Miene machte, sich ihm wieder zu nähern, streckte er die Hand aus und zeigte auf die strafte. Der Alte blieb stehen. Dann bückte er sich und hob deu Stock auf, der 'was zu seineu Füßen lag. Wieder blickte er dem Sohne ins Gesicht, kein Zug hatte sich darin verändert. Da ballte er die Faust und wandte sich hinkend davon. Als Wiesel zu den andern zurücktrat, öffnete Linie die Augen, und ihr Blick traf Franz. Sie schaute ihn lange an. Dann sagte sie mit leiser, erlöschender Stimme- Die Wandertage sind zu Ende, Franz, ich fühle es, daß ich sterbe. Wir haben das Zeichen falsch verstanden. Ich bin es, die fortzieht, und ich lasse dich zurück. Meine Seele zieht es hinauf in d"s lichte Blaue über mir. Ich möchte bleiben, und must doch von dir gehe«. Aber es ist so am beste»; ich hätte doch kein Glück mehr gefunden. Ja, es ist so ">n besten. Grüfte mir alle, Vater und Mutter, sie sollen mir vergeben. Lebe Wohl, Liebste. Gott sei mit dir. Sie drückte ihm schwach die Hand und schloß die Augen. Die Spielleute richteten ans Baumzweigen eine Tragbahre her, breiteten Kleidungsstücke darüber und legten die Ohnmächtige vorsichtig darnnf. Dann trugen sie ihre Bürde langsam dem Dorfe zu. Nu» erhob sich anch Franz; er trat zu den Männern und bot ihnen die Hände, d"ß sie ihn fesselten. Wilhelm Speck Maßgebliches und Unmaßgebliches Nochmals die Aussichten der Neichssteucrn. Im 47. Hefte der Grenz¬ boten ist über die Aussichten der Reichsstenern ein höchst bemerkenswerter Aufsatz erschienen, der in mehr als einer Hinsicht geeignet ist, zu einer weitern Betrachtung des „aktuellen" Stoffes anzuregen. Wir stimmen dem Verfasser unbedingt darin bei, daß die Geldbednrfmsie des Reichs irgendwie beschafft werden müssen. Auch darüber sind nur vollkommen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/597
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/597>, abgerufen am 04.05.2024.