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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Ist der Mittelstand im schwinden begriffen?
O. Bähr von

s gehört zu den Lieblingssätzen unsrer Sozialdemokratie, daß der
Mittelstand bei uns im Schwinden begriffen sei, und daß es in
nicht ferner Zeit nur noch ganz Reiche und ganz Arme geben
werde; daun hoffen sie mit den Reichen um so leichter fertig zu
werden. Andre sprechen ihnen das auf Grund einer oberfläch¬
lichen Anschauung der Verhältnisse nach. Ist dem nun wirklich so? Ist unser
Mittelstand wirklich im Aussterben begriffen?

Um auf diese Frage einzugehen, müssen wir uns zunächst über den Begriff
des Mittelstandes zu verständigen suchen. Mau kann darunter die Summe derer
verstehen, die zwar kein reiches, aber doch ein so zureichendes und gesichertes
Einkommen haben, daß sie ein über das notdürftige Maß der Existenz hinaus¬
gehendes Leben führen können. Jeder Versuch, in dieser Beziehung eine feste
Grenze zu ziehen, trägt ja unverkennbar den Charakter der Willkür an sich.
Man kann die untere Grenze des Mittelstandes vielleicht da ziehen, wo das
neue preußische Gesetz die Einkommensteuer beginnen läßt; also bei einem Ein¬
kommen von 900 Mark. Die obere Grenze kann man etwa auf ein Einkommen
von 12000 Mark setzen, da mit diesem eine Familie in der Regel anständig
wird leben können. Zwischen diesen Betrügen liegt anch der Gehalt der meisten
Beamten. Jedes Einkommen ist aber um so mehr wert, je gesicherter es ist.
Deshalb ist der Gehalt eines Beamten, da stets mit Sicherheit auf ihn gerechnet
werden kann, mehr wert als das zu gleichem Durchschnittsbetrag zu veran¬
schlagende Einkommen eines Geschäftsmannes, der bald mehr, bald weniger
als diesen Durchschnittsbetrag einnimmt.

Um nun Klarheit über die Frage zu gewinnen, ob unser Mittelstand wirk¬
lich zusammenschwinde, habe ich zunächst folgenden Weg eingeschlagen. Ich


Grenzboten I 18S5 13


Ist der Mittelstand im schwinden begriffen?
O. Bähr von

s gehört zu den Lieblingssätzen unsrer Sozialdemokratie, daß der
Mittelstand bei uns im Schwinden begriffen sei, und daß es in
nicht ferner Zeit nur noch ganz Reiche und ganz Arme geben
werde; daun hoffen sie mit den Reichen um so leichter fertig zu
werden. Andre sprechen ihnen das auf Grund einer oberfläch¬
lichen Anschauung der Verhältnisse nach. Ist dem nun wirklich so? Ist unser
Mittelstand wirklich im Aussterben begriffen?

Um auf diese Frage einzugehen, müssen wir uns zunächst über den Begriff
des Mittelstandes zu verständigen suchen. Mau kann darunter die Summe derer
verstehen, die zwar kein reiches, aber doch ein so zureichendes und gesichertes
Einkommen haben, daß sie ein über das notdürftige Maß der Existenz hinaus¬
gehendes Leben führen können. Jeder Versuch, in dieser Beziehung eine feste
Grenze zu ziehen, trägt ja unverkennbar den Charakter der Willkür an sich.
Man kann die untere Grenze des Mittelstandes vielleicht da ziehen, wo das
neue preußische Gesetz die Einkommensteuer beginnen läßt; also bei einem Ein¬
kommen von 900 Mark. Die obere Grenze kann man etwa auf ein Einkommen
von 12000 Mark setzen, da mit diesem eine Familie in der Regel anständig
wird leben können. Zwischen diesen Betrügen liegt anch der Gehalt der meisten
Beamten. Jedes Einkommen ist aber um so mehr wert, je gesicherter es ist.
Deshalb ist der Gehalt eines Beamten, da stets mit Sicherheit auf ihn gerechnet
werden kann, mehr wert als das zu gleichem Durchschnittsbetrag zu veran¬
schlagende Einkommen eines Geschäftsmannes, der bald mehr, bald weniger
als diesen Durchschnittsbetrag einnimmt.

Um nun Klarheit über die Frage zu gewinnen, ob unser Mittelstand wirk¬
lich zusammenschwinde, habe ich zunächst folgenden Weg eingeschlagen. Ich


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[0105] [Abbildung] Ist der Mittelstand im schwinden begriffen? O. Bähr von s gehört zu den Lieblingssätzen unsrer Sozialdemokratie, daß der Mittelstand bei uns im Schwinden begriffen sei, und daß es in nicht ferner Zeit nur noch ganz Reiche und ganz Arme geben werde; daun hoffen sie mit den Reichen um so leichter fertig zu werden. Andre sprechen ihnen das auf Grund einer oberfläch¬ lichen Anschauung der Verhältnisse nach. Ist dem nun wirklich so? Ist unser Mittelstand wirklich im Aussterben begriffen? Um auf diese Frage einzugehen, müssen wir uns zunächst über den Begriff des Mittelstandes zu verständigen suchen. Mau kann darunter die Summe derer verstehen, die zwar kein reiches, aber doch ein so zureichendes und gesichertes Einkommen haben, daß sie ein über das notdürftige Maß der Existenz hinaus¬ gehendes Leben führen können. Jeder Versuch, in dieser Beziehung eine feste Grenze zu ziehen, trägt ja unverkennbar den Charakter der Willkür an sich. Man kann die untere Grenze des Mittelstandes vielleicht da ziehen, wo das neue preußische Gesetz die Einkommensteuer beginnen läßt; also bei einem Ein¬ kommen von 900 Mark. Die obere Grenze kann man etwa auf ein Einkommen von 12000 Mark setzen, da mit diesem eine Familie in der Regel anständig wird leben können. Zwischen diesen Betrügen liegt anch der Gehalt der meisten Beamten. Jedes Einkommen ist aber um so mehr wert, je gesicherter es ist. Deshalb ist der Gehalt eines Beamten, da stets mit Sicherheit auf ihn gerechnet werden kann, mehr wert als das zu gleichem Durchschnittsbetrag zu veran¬ schlagende Einkommen eines Geschäftsmannes, der bald mehr, bald weniger als diesen Durchschnittsbetrag einnimmt. Um nun Klarheit über die Frage zu gewinnen, ob unser Mittelstand wirk¬ lich zusammenschwinde, habe ich zunächst folgenden Weg eingeschlagen. Ich Grenzboten I 18S5 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/105>, abgerufen am 27.04.2024.