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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

den niedern Klassen schlechter ginge als früher, sondern nnr dadurch, daß es
heute den höhern Klassen besser geht. Man darf jedoch bei den Anforderungen,
die man in dieser Beziehung stellt, nicht übersehen, daß es außerordentlich
schwer ist, jene Pflichten in angemessener, nicht zu Mißbräuchen führender Art
zu üben und zu regeln. Sonst aber giebt es keine soziale Frage, die gelöst
werden könnte. Eine solche in anderm Sinne aufstellen und lösen wollen,
heißt die menschliche Gesellschaft zertrümmern.

Um nochmals auf die Stellung des Mittelstandes zurückzukommen, so ist
ja unverkennbar, daß einzelne Zweige desselben durch die veränderten Verhält¬
nisse bedrängt und zurückgekommen sind. Im allgemeinen aber besteht auch
heute uoch ein Mittelstand in durchaus mohlhäbiger und Achtung gebietender
Stellung. Er darf sich nur nicht durch die Mißgunst wider den Reichtum
und die Sucht, es diesem gleich zu thun, beirren lassen.




Natur und Behandlung des Verbrechers
i

u der "Internationalen kriminalistischen Vereinigung" arbeiten
Männer von Geist und Gewissen daran, dem Schlendrian unsrer
Strafrechtspflege ein Ende zu machen, und die Vertreter einer
neuen Wissenschaft, der Kriminal-Anthropologie,^) die auch ihrer¬
seits seit einigen Jahren Kongresse abhalten, sind bemüht, für
diese Bestrebungen eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen. Mit der
flüchtigen kritischen Überschau über diese Neformidcen, die wir nachstehend ver¬
suchen, lehnen wir uns an das Buch eines Engländers an: Verbrecher und
Verbrechen von Dr. Havelock Ellis, mit 7 Tafeln und Textillnstrationen.
Autorisirte, vielfach verbesserte deutsche Ausgabe von Dr. Hans Kurella.
(Leipzig, Georg H. Wigand, 18ö4.) Der Übersetzer, selbst eine Autorität ans
diesem Gebiet und Verfasser einer "Naturgeschichte des Verbrechers," schreibt
in seinem Vorwort, es habe bisher bei uns ein Buch gefehlt, das die ver-
schiednen Richtungen der hierher gehörigen Forschungen und ihre Ergebnisse
zusammenfaßte. "Als Veteran der Kämpfe um den "gebornen Verbrecher"
darf ich zugleich beanspruchen, als Kenner der einschlägigen Litteratur zu gelten,
nud so habe ich denn das vorliegende Buch als das, das Vollständigkeit und



Die Herren schreiben gewöhnlich "kriminelle Anthropologie," was natürlich eine
Sprachdummheit ist. Kriminell würde ihre Anthropologie z. B. dann sein, wenn sie Mensche"
zu Forschungszwecken vivisezirten.
Natur und Behandlung des Verbrechers

den niedern Klassen schlechter ginge als früher, sondern nnr dadurch, daß es
heute den höhern Klassen besser geht. Man darf jedoch bei den Anforderungen,
die man in dieser Beziehung stellt, nicht übersehen, daß es außerordentlich
schwer ist, jene Pflichten in angemessener, nicht zu Mißbräuchen führender Art
zu üben und zu regeln. Sonst aber giebt es keine soziale Frage, die gelöst
werden könnte. Eine solche in anderm Sinne aufstellen und lösen wollen,
heißt die menschliche Gesellschaft zertrümmern.

Um nochmals auf die Stellung des Mittelstandes zurückzukommen, so ist
ja unverkennbar, daß einzelne Zweige desselben durch die veränderten Verhält¬
nisse bedrängt und zurückgekommen sind. Im allgemeinen aber besteht auch
heute uoch ein Mittelstand in durchaus mohlhäbiger und Achtung gebietender
Stellung. Er darf sich nur nicht durch die Mißgunst wider den Reichtum
und die Sucht, es diesem gleich zu thun, beirren lassen.




Natur und Behandlung des Verbrechers
i

u der „Internationalen kriminalistischen Vereinigung" arbeiten
Männer von Geist und Gewissen daran, dem Schlendrian unsrer
Strafrechtspflege ein Ende zu machen, und die Vertreter einer
neuen Wissenschaft, der Kriminal-Anthropologie,^) die auch ihrer¬
seits seit einigen Jahren Kongresse abhalten, sind bemüht, für
diese Bestrebungen eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen. Mit der
flüchtigen kritischen Überschau über diese Neformidcen, die wir nachstehend ver¬
suchen, lehnen wir uns an das Buch eines Engländers an: Verbrecher und
Verbrechen von Dr. Havelock Ellis, mit 7 Tafeln und Textillnstrationen.
Autorisirte, vielfach verbesserte deutsche Ausgabe von Dr. Hans Kurella.
(Leipzig, Georg H. Wigand, 18ö4.) Der Übersetzer, selbst eine Autorität ans
diesem Gebiet und Verfasser einer „Naturgeschichte des Verbrechers," schreibt
in seinem Vorwort, es habe bisher bei uns ein Buch gefehlt, das die ver-
schiednen Richtungen der hierher gehörigen Forschungen und ihre Ergebnisse
zusammenfaßte. „Als Veteran der Kämpfe um den »gebornen Verbrecher«
darf ich zugleich beanspruchen, als Kenner der einschlägigen Litteratur zu gelten,
nud so habe ich denn das vorliegende Buch als das, das Vollständigkeit und



Die Herren schreiben gewöhnlich „kriminelle Anthropologie," was natürlich eine
Sprachdummheit ist. Kriminell würde ihre Anthropologie z. B. dann sein, wenn sie Mensche»
zu Forschungszwecken vivisezirten.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/116>, abgerufen am 28.04.2024.