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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Neue Novellen

zum Verfall, ja sie selbst ist bereits das sprechendste Zeichen des Verfalls.
Denn allein schon die übertriebne Verherrlichung der Mache, in Verbindung
mit dieser Verachtung des geistigen Teiles der Kunst, diesem Hasse gegen das
Ideale, ist der schlagendste, bündigste Beweis, daß sich diese Richtung auf der
abschüssigen Bahn des Verfalls bewegt. Denn noch niemals ist in der Kunst
aus dem Stoffe Leben entsprungen, wohl aber ist es auch in der Kunst "der
Geist, der sich den Körper schafft." Es giebt ja auch heute noch viele be¬
sonnene und tüchtige Künstler, die an der geschichtlichen Überlieferung und an
den alten Grundsätzen festhalten; ihre Werke genügen auch den Einsichtigen.
Aber die Masse wendet sich von ihnen zu den Jungen, deren Richtung das
Zeichen der Zeit ist. Eine Umkehr in der Kunst wäre nur dann denkbar und
möglich, wenn die Masse umkehren wollte. Ist das zu hoffen?

(Schluß folgt)




Neue Novellen^)

le Novelle sollte ihrem ganzen Charakter und ihrer ursprüng¬
lichen Bedeutung nach dem litterarischen Marktbetriebe entzogen
sein. Sie setzt eine tiefere Lebens- und Herzenskenntnis und eine
feinere künstlerische Durchbildung voraus als der Roman, der
unter Umständen robuster, äußerlicher und, sofern er nur reich
und lebendig erscheint, unkünstlerischer sein darf. Daß diese Voraussetzung
schon lange nur noch für eine kleine Anzahl von Novellen und Novellisten zu¬
trifft, und daß die gemeine Garten-, Feld- und Wiesenerzühlung unter dem
Titel Novelle wagenladungsweise angeboten und verkauft wird, ist männiglich
bekannt. Auch daß der "Bedarf" allerhand wunderliche Experimente erzeugt,
ist nichts neues. Wie man in Straßburg Gänse mit unnatürlich großen
Lebern aufzieht, an denen alles andre verkrüppeln mag, so pflegt man in
Feuilletons und illustrirten Werken die sechs-, die zehn-, die zwölf- und zwanzig-
spaltige "Novelle," in der ein bestimmter Effekt (um dessen Darstellung es sich
ausschließlich handelt) unnatürlich breit entwickelt wird, während die übrigen
Teile dürftig und unausgebildet bleiben. Wie man gewisse Zuckerfiguren feil¬
bietet, deren eigentliche Bestandteile schlechthin ungenießbar sind, die aber durch
gleißende Farben locken, so tauchen von allen Seiten Koloritnovellen auf, in
denen weder Gehalt noch Gestalt zu finden ist. Wie die Dreimarkläden ihre



*) Vergleiche die Aufsätze in den vorjährigen Grenzboten, Heft 42. 45. 49.
Neue Novellen

zum Verfall, ja sie selbst ist bereits das sprechendste Zeichen des Verfalls.
Denn allein schon die übertriebne Verherrlichung der Mache, in Verbindung
mit dieser Verachtung des geistigen Teiles der Kunst, diesem Hasse gegen das
Ideale, ist der schlagendste, bündigste Beweis, daß sich diese Richtung auf der
abschüssigen Bahn des Verfalls bewegt. Denn noch niemals ist in der Kunst
aus dem Stoffe Leben entsprungen, wohl aber ist es auch in der Kunst „der
Geist, der sich den Körper schafft." Es giebt ja auch heute noch viele be¬
sonnene und tüchtige Künstler, die an der geschichtlichen Überlieferung und an
den alten Grundsätzen festhalten; ihre Werke genügen auch den Einsichtigen.
Aber die Masse wendet sich von ihnen zu den Jungen, deren Richtung das
Zeichen der Zeit ist. Eine Umkehr in der Kunst wäre nur dann denkbar und
möglich, wenn die Masse umkehren wollte. Ist das zu hoffen?

(Schluß folgt)




Neue Novellen^)

le Novelle sollte ihrem ganzen Charakter und ihrer ursprüng¬
lichen Bedeutung nach dem litterarischen Marktbetriebe entzogen
sein. Sie setzt eine tiefere Lebens- und Herzenskenntnis und eine
feinere künstlerische Durchbildung voraus als der Roman, der
unter Umständen robuster, äußerlicher und, sofern er nur reich
und lebendig erscheint, unkünstlerischer sein darf. Daß diese Voraussetzung
schon lange nur noch für eine kleine Anzahl von Novellen und Novellisten zu¬
trifft, und daß die gemeine Garten-, Feld- und Wiesenerzühlung unter dem
Titel Novelle wagenladungsweise angeboten und verkauft wird, ist männiglich
bekannt. Auch daß der „Bedarf" allerhand wunderliche Experimente erzeugt,
ist nichts neues. Wie man in Straßburg Gänse mit unnatürlich großen
Lebern aufzieht, an denen alles andre verkrüppeln mag, so pflegt man in
Feuilletons und illustrirten Werken die sechs-, die zehn-, die zwölf- und zwanzig-
spaltige „Novelle," in der ein bestimmter Effekt (um dessen Darstellung es sich
ausschließlich handelt) unnatürlich breit entwickelt wird, während die übrigen
Teile dürftig und unausgebildet bleiben. Wie man gewisse Zuckerfiguren feil¬
bietet, deren eigentliche Bestandteile schlechthin ungenießbar sind, die aber durch
gleißende Farben locken, so tauchen von allen Seiten Koloritnovellen auf, in
denen weder Gehalt noch Gestalt zu finden ist. Wie die Dreimarkläden ihre



*) Vergleiche die Aufsätze in den vorjährigen Grenzboten, Heft 42. 45. 49.
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[0134] Neue Novellen zum Verfall, ja sie selbst ist bereits das sprechendste Zeichen des Verfalls. Denn allein schon die übertriebne Verherrlichung der Mache, in Verbindung mit dieser Verachtung des geistigen Teiles der Kunst, diesem Hasse gegen das Ideale, ist der schlagendste, bündigste Beweis, daß sich diese Richtung auf der abschüssigen Bahn des Verfalls bewegt. Denn noch niemals ist in der Kunst aus dem Stoffe Leben entsprungen, wohl aber ist es auch in der Kunst „der Geist, der sich den Körper schafft." Es giebt ja auch heute noch viele be¬ sonnene und tüchtige Künstler, die an der geschichtlichen Überlieferung und an den alten Grundsätzen festhalten; ihre Werke genügen auch den Einsichtigen. Aber die Masse wendet sich von ihnen zu den Jungen, deren Richtung das Zeichen der Zeit ist. Eine Umkehr in der Kunst wäre nur dann denkbar und möglich, wenn die Masse umkehren wollte. Ist das zu hoffen? (Schluß folgt) Neue Novellen^) le Novelle sollte ihrem ganzen Charakter und ihrer ursprüng¬ lichen Bedeutung nach dem litterarischen Marktbetriebe entzogen sein. Sie setzt eine tiefere Lebens- und Herzenskenntnis und eine feinere künstlerische Durchbildung voraus als der Roman, der unter Umständen robuster, äußerlicher und, sofern er nur reich und lebendig erscheint, unkünstlerischer sein darf. Daß diese Voraussetzung schon lange nur noch für eine kleine Anzahl von Novellen und Novellisten zu¬ trifft, und daß die gemeine Garten-, Feld- und Wiesenerzühlung unter dem Titel Novelle wagenladungsweise angeboten und verkauft wird, ist männiglich bekannt. Auch daß der „Bedarf" allerhand wunderliche Experimente erzeugt, ist nichts neues. Wie man in Straßburg Gänse mit unnatürlich großen Lebern aufzieht, an denen alles andre verkrüppeln mag, so pflegt man in Feuilletons und illustrirten Werken die sechs-, die zehn-, die zwölf- und zwanzig- spaltige „Novelle," in der ein bestimmter Effekt (um dessen Darstellung es sich ausschließlich handelt) unnatürlich breit entwickelt wird, während die übrigen Teile dürftig und unausgebildet bleiben. Wie man gewisse Zuckerfiguren feil¬ bietet, deren eigentliche Bestandteile schlechthin ungenießbar sind, die aber durch gleißende Farben locken, so tauchen von allen Seiten Koloritnovellen auf, in denen weder Gehalt noch Gestalt zu finden ist. Wie die Dreimarkläden ihre *) Vergleiche die Aufsätze in den vorjährigen Grenzboten, Heft 42. 45. 49.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/134>, abgerufen am 27.04.2024.