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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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prozeßsucht und Prozeßverschleppung

le große Menge bringt der Strafrechtspflege weit mehr Teil¬
nahme entgegen, als dem gerichtlichen Verfahren in bürgerlichen
Rechtsstreitigkeiten, trotz der Öffentlichkeit beider. Die Mängel
der Strafrechtspflege erregen auch Unbeteiligte, über das andre
klagen meist nur die, die gerade in einen Prozeß verwickelt sind.
Aber das ist natürlich. Denn dort handelt es sich um den Verlust der höchsten
Güter, um Ehre, Freiheit und Leben, hier nur um einen größern oder ge¬
ringern Vermögenswert. Und was erlaubt und straffrei oder was unrecht
oder strafwürdig sei, darüber hält sich jeder eines Urteils für fähig, da es ihm
mit sittlicher Berechtigung und Schuld zusammenfällt; über Ansprüche und
Verpflichtungen aus Rechtsverhältnissen des bürgerlichen Lebens zu irren, ge¬
steht man bereitwilliger ein.

Um zweierlei aber kümmert sich auch bei den bürgerlichen Rechtsstreitig¬
keiten die öffentliche Meinung lebhafter: um deren Häufigkeit und um die
lange Dauer des gerichtlichen Verfahrens. Deshalb mögen heute einmal an
dieser Stelle, von der aus schon wiederholt die Mängel der Strafrechtspflege
beleuchtet worden sind, die Gesetzesbestimmungen über das gerichtliche Ver¬
fahren in bürgerlichen Rechtssachen besprochen werden, die die Prozeßsucht und
die Prvzeßvcrschleppung geradezu befördern. Und zwar wünschen wir damit
zu verhindern, daß eine von der Redaktionskommission für den Entwurf eines
bürgerlichen Gesetzbuchs vvrgeschlagne Bestimmung überhaupt Gesetz werde,
und dazu beizutragen, daß sich die geplante Abänderung unsrer geltenden
Zivilprozeßordnung auch auf die gerügten Vorschriften erstrecke. Die Be¬
sprechung namentlich jenes die Prozeßsucht befördernden Gesetzesvorschlags vor
einem größern Kreise erscheint nur so nötiger, als trotz der Abmahnung von
berufner und in der Wissenschaft anerkannter Seite die Kommission bei der


Grenzbote" I 1895 37


prozeßsucht und Prozeßverschleppung

le große Menge bringt der Strafrechtspflege weit mehr Teil¬
nahme entgegen, als dem gerichtlichen Verfahren in bürgerlichen
Rechtsstreitigkeiten, trotz der Öffentlichkeit beider. Die Mängel
der Strafrechtspflege erregen auch Unbeteiligte, über das andre
klagen meist nur die, die gerade in einen Prozeß verwickelt sind.
Aber das ist natürlich. Denn dort handelt es sich um den Verlust der höchsten
Güter, um Ehre, Freiheit und Leben, hier nur um einen größern oder ge¬
ringern Vermögenswert. Und was erlaubt und straffrei oder was unrecht
oder strafwürdig sei, darüber hält sich jeder eines Urteils für fähig, da es ihm
mit sittlicher Berechtigung und Schuld zusammenfällt; über Ansprüche und
Verpflichtungen aus Rechtsverhältnissen des bürgerlichen Lebens zu irren, ge¬
steht man bereitwilliger ein.

Um zweierlei aber kümmert sich auch bei den bürgerlichen Rechtsstreitig¬
keiten die öffentliche Meinung lebhafter: um deren Häufigkeit und um die
lange Dauer des gerichtlichen Verfahrens. Deshalb mögen heute einmal an
dieser Stelle, von der aus schon wiederholt die Mängel der Strafrechtspflege
beleuchtet worden sind, die Gesetzesbestimmungen über das gerichtliche Ver¬
fahren in bürgerlichen Rechtssachen besprochen werden, die die Prozeßsucht und
die Prvzeßvcrschleppung geradezu befördern. Und zwar wünschen wir damit
zu verhindern, daß eine von der Redaktionskommission für den Entwurf eines
bürgerlichen Gesetzbuchs vvrgeschlagne Bestimmung überhaupt Gesetz werde,
und dazu beizutragen, daß sich die geplante Abänderung unsrer geltenden
Zivilprozeßordnung auch auf die gerügten Vorschriften erstrecke. Die Be¬
sprechung namentlich jenes die Prozeßsucht befördernden Gesetzesvorschlags vor
einem größern Kreise erscheint nur so nötiger, als trotz der Abmahnung von
berufner und in der Wissenschaft anerkannter Seite die Kommission bei der


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[0299] [Abbildung] prozeßsucht und Prozeßverschleppung le große Menge bringt der Strafrechtspflege weit mehr Teil¬ nahme entgegen, als dem gerichtlichen Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, trotz der Öffentlichkeit beider. Die Mängel der Strafrechtspflege erregen auch Unbeteiligte, über das andre klagen meist nur die, die gerade in einen Prozeß verwickelt sind. Aber das ist natürlich. Denn dort handelt es sich um den Verlust der höchsten Güter, um Ehre, Freiheit und Leben, hier nur um einen größern oder ge¬ ringern Vermögenswert. Und was erlaubt und straffrei oder was unrecht oder strafwürdig sei, darüber hält sich jeder eines Urteils für fähig, da es ihm mit sittlicher Berechtigung und Schuld zusammenfällt; über Ansprüche und Verpflichtungen aus Rechtsverhältnissen des bürgerlichen Lebens zu irren, ge¬ steht man bereitwilliger ein. Um zweierlei aber kümmert sich auch bei den bürgerlichen Rechtsstreitig¬ keiten die öffentliche Meinung lebhafter: um deren Häufigkeit und um die lange Dauer des gerichtlichen Verfahrens. Deshalb mögen heute einmal an dieser Stelle, von der aus schon wiederholt die Mängel der Strafrechtspflege beleuchtet worden sind, die Gesetzesbestimmungen über das gerichtliche Ver¬ fahren in bürgerlichen Rechtssachen besprochen werden, die die Prozeßsucht und die Prvzeßvcrschleppung geradezu befördern. Und zwar wünschen wir damit zu verhindern, daß eine von der Redaktionskommission für den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs vvrgeschlagne Bestimmung überhaupt Gesetz werde, und dazu beizutragen, daß sich die geplante Abänderung unsrer geltenden Zivilprozeßordnung auch auf die gerügten Vorschriften erstrecke. Die Be¬ sprechung namentlich jenes die Prozeßsucht befördernden Gesetzesvorschlags vor einem größern Kreise erscheint nur so nötiger, als trotz der Abmahnung von berufner und in der Wissenschaft anerkannter Seite die Kommission bei der Grenzbote» I 1895 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/299>, abgerufen am 27.04.2024.