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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Parlament und Parlamentsdisziplin in Lngland

durch einen beauftragten Richter aus seiner Mitte in einem vorbereitenden Ver¬
fahren erörtern und aufkläre" zu lassen. Dies würde sich besonders in den
Fällen empfehlen, wo mit den Parteien persönlich verhandelt werden muß.

Wir sind der festen Überzeugung, daß die hier vvrgeschlngnen Abän¬
derungen in ihrem Zusammenwirken ganz außerordentlich zu einer Beschleu¬
nigung des Prozesses beitragen würden. Daß dies aber für eine gute und
gesunde Rechtspflege notwendig ist, wird niemand in Abrede stellen. Nirgends
mehr als hier gilt das Wort: Doppelt hilft, wer schnell hilft. Dessen muß
auch der Staat bei Gewährung seiner Rechtshilfe eingedenk sein.




Parlament und Parlamentsdisziplin in England

u einer Zeit, wo man mit allgemeiner Aufmerksamkeit die Ma߬
nahmen verfolgt, die gegen die sozialdemokratischen deutschen
Reichstagsabgeordneten wegen ihres Sitzenbleibens bei dem Hoch
auf den Kaiser ergriffen worden sind und noch ergriffen werden
sollen, ist es vielleicht von Interesse, die Art und Weise kennen
zu lernen, wie Würde und Anstand in den Verhandlungen der englischen gesetz¬
gebenden Versammlung aufrecht erhalten werden. Das britische Haus der
Gemeinen liebt es, sich deu Titel einer "Mutter der Parlamente" beizulegen,
und selbst Mr. Gladstone gab ihm, als er zum letztenmal eine Reform der
Geschäftsordnung für das "Haus," wie mau vertraulich fagt, vorschlug, die¬
selbe Bezeichnung. Er rühmte dabei, daß sich die Vorgänge in dieser "Mutter
der Parlamente" nicht nur von Stunde zu Stunde, sondern selbst von Minute
zu Minute über alle Teile der Erde verbreiteten. Es ist nun Thatsache, daß
die für die Verhandlungen und die Wohlanständigkeit dieses alten Hauses
giltigen Regeln fast ganz auf Überlieferungen beruhen und in keine geschriebne
Form gebracht sind. Diese Überlieferungen, von denen sich das britische Par¬
lament leiten läßt, knüpfen um eine sorgfältig bearbeitete Reihe von Präzedenz-
fällen an. Diese Vorgänge selbst aber sind wieder durchaus auf den angebornen
gesunden Menschenverstand gegründet, der dem Engländer in politischen Dingen
eigentümlich ist und die eigentliche feste Grundlage, das Rückgrat seines ganzen
Politischen Lebens bildet. Der bekannte deutsche Professor Dr. L. Wiese vom
Joachimsthalschen Gymnasium besuchte England im Jahre 1854, als die ein¬
zelnen nationalen Charakterzüge der verschiednen Völker noch nicht so allgemein
bekannt waren wie jetzt. Eine seiner treffendsten Beobachtungen ist die Achtung


Parlament und Parlamentsdisziplin in Lngland

durch einen beauftragten Richter aus seiner Mitte in einem vorbereitenden Ver¬
fahren erörtern und aufkläre» zu lassen. Dies würde sich besonders in den
Fällen empfehlen, wo mit den Parteien persönlich verhandelt werden muß.

Wir sind der festen Überzeugung, daß die hier vvrgeschlngnen Abän¬
derungen in ihrem Zusammenwirken ganz außerordentlich zu einer Beschleu¬
nigung des Prozesses beitragen würden. Daß dies aber für eine gute und
gesunde Rechtspflege notwendig ist, wird niemand in Abrede stellen. Nirgends
mehr als hier gilt das Wort: Doppelt hilft, wer schnell hilft. Dessen muß
auch der Staat bei Gewährung seiner Rechtshilfe eingedenk sein.




Parlament und Parlamentsdisziplin in England

u einer Zeit, wo man mit allgemeiner Aufmerksamkeit die Ma߬
nahmen verfolgt, die gegen die sozialdemokratischen deutschen
Reichstagsabgeordneten wegen ihres Sitzenbleibens bei dem Hoch
auf den Kaiser ergriffen worden sind und noch ergriffen werden
sollen, ist es vielleicht von Interesse, die Art und Weise kennen
zu lernen, wie Würde und Anstand in den Verhandlungen der englischen gesetz¬
gebenden Versammlung aufrecht erhalten werden. Das britische Haus der
Gemeinen liebt es, sich deu Titel einer „Mutter der Parlamente" beizulegen,
und selbst Mr. Gladstone gab ihm, als er zum letztenmal eine Reform der
Geschäftsordnung für das „Haus," wie mau vertraulich fagt, vorschlug, die¬
selbe Bezeichnung. Er rühmte dabei, daß sich die Vorgänge in dieser „Mutter
der Parlamente" nicht nur von Stunde zu Stunde, sondern selbst von Minute
zu Minute über alle Teile der Erde verbreiteten. Es ist nun Thatsache, daß
die für die Verhandlungen und die Wohlanständigkeit dieses alten Hauses
giltigen Regeln fast ganz auf Überlieferungen beruhen und in keine geschriebne
Form gebracht sind. Diese Überlieferungen, von denen sich das britische Par¬
lament leiten läßt, knüpfen um eine sorgfältig bearbeitete Reihe von Präzedenz-
fällen an. Diese Vorgänge selbst aber sind wieder durchaus auf den angebornen
gesunden Menschenverstand gegründet, der dem Engländer in politischen Dingen
eigentümlich ist und die eigentliche feste Grundlage, das Rückgrat seines ganzen
Politischen Lebens bildet. Der bekannte deutsche Professor Dr. L. Wiese vom
Joachimsthalschen Gymnasium besuchte England im Jahre 1854, als die ein¬
zelnen nationalen Charakterzüge der verschiednen Völker noch nicht so allgemein
bekannt waren wie jetzt. Eine seiner treffendsten Beobachtungen ist die Achtung


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[0309] Parlament und Parlamentsdisziplin in Lngland durch einen beauftragten Richter aus seiner Mitte in einem vorbereitenden Ver¬ fahren erörtern und aufkläre» zu lassen. Dies würde sich besonders in den Fällen empfehlen, wo mit den Parteien persönlich verhandelt werden muß. Wir sind der festen Überzeugung, daß die hier vvrgeschlngnen Abän¬ derungen in ihrem Zusammenwirken ganz außerordentlich zu einer Beschleu¬ nigung des Prozesses beitragen würden. Daß dies aber für eine gute und gesunde Rechtspflege notwendig ist, wird niemand in Abrede stellen. Nirgends mehr als hier gilt das Wort: Doppelt hilft, wer schnell hilft. Dessen muß auch der Staat bei Gewährung seiner Rechtshilfe eingedenk sein. Parlament und Parlamentsdisziplin in England u einer Zeit, wo man mit allgemeiner Aufmerksamkeit die Ma߬ nahmen verfolgt, die gegen die sozialdemokratischen deutschen Reichstagsabgeordneten wegen ihres Sitzenbleibens bei dem Hoch auf den Kaiser ergriffen worden sind und noch ergriffen werden sollen, ist es vielleicht von Interesse, die Art und Weise kennen zu lernen, wie Würde und Anstand in den Verhandlungen der englischen gesetz¬ gebenden Versammlung aufrecht erhalten werden. Das britische Haus der Gemeinen liebt es, sich deu Titel einer „Mutter der Parlamente" beizulegen, und selbst Mr. Gladstone gab ihm, als er zum letztenmal eine Reform der Geschäftsordnung für das „Haus," wie mau vertraulich fagt, vorschlug, die¬ selbe Bezeichnung. Er rühmte dabei, daß sich die Vorgänge in dieser „Mutter der Parlamente" nicht nur von Stunde zu Stunde, sondern selbst von Minute zu Minute über alle Teile der Erde verbreiteten. Es ist nun Thatsache, daß die für die Verhandlungen und die Wohlanständigkeit dieses alten Hauses giltigen Regeln fast ganz auf Überlieferungen beruhen und in keine geschriebne Form gebracht sind. Diese Überlieferungen, von denen sich das britische Par¬ lament leiten läßt, knüpfen um eine sorgfältig bearbeitete Reihe von Präzedenz- fällen an. Diese Vorgänge selbst aber sind wieder durchaus auf den angebornen gesunden Menschenverstand gegründet, der dem Engländer in politischen Dingen eigentümlich ist und die eigentliche feste Grundlage, das Rückgrat seines ganzen Politischen Lebens bildet. Der bekannte deutsche Professor Dr. L. Wiese vom Joachimsthalschen Gymnasium besuchte England im Jahre 1854, als die ein¬ zelnen nationalen Charakterzüge der verschiednen Völker noch nicht so allgemein bekannt waren wie jetzt. Eine seiner treffendsten Beobachtungen ist die Achtung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/309>, abgerufen am 27.04.2024.