Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Noch ein Wort über Drrsinnserklärung
G. Bahr von

äst gleichzeitig mit dem Erscheinen des jüngst von mir in diesen
Blättern veröffentlichten Aufsatzes "Die Jrrsiunscrklärnng" sind
in Göttingen Männer von verschiednen Berufsarten und Parteien
versammelt gewesen, um über eine Reform des Jrrenwesens in
Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zu beraten. Sie
haben darüber eine Anzahl "Leitsätze" aufgestellt und durch die Presse ver¬
öffentlicht. Auf Wunsch der Redaktion dieser Blätter will ich diese Aufstellung
hier kurz besprechen.

Es bedarf wohl kaum der Versicherung, daß, wenn ich glaubte, daß wirk¬
lich auf dem Gebiete des Jrrenwesens, insbesondre in der Ordnung des Ent-
mündigungSverfahrens, so schwere Mißstände obwalteten, wie behauptet wird,
und daß es Mittel gäbe, diese Mißstände zu beseitigen, ich einer der ersten
sein würde, der dafür das Wort ergriffe.

Der Grund, weshalb ich an eine dringende Gefahr in dieser Beziehung
nicht glaube, liegt für mich zunächst in der Vergangenheit. In den Ländern
des gemeinen Rechts, und namentlich auch in Kurhessen, erfolgte bis zum
Jahre 1879 die Jrrsiunserklärung und Entmündigung nur durch die freiwillige
Gerichtsbarkeit. Ein Prozeßverfahren darüber, wie es jetzt gegeben ist, fand
nicht statt. Allerdings konnte gegen die durch die freiwillige Gerichtsbarkeit
getroffene Entscheidung bis in die höchste Instanz Beschwerde erhoben werden.
Aber die Bürgschaften gegen eine mißbräuchliche Anwendung der Jrrsiunserklä¬
rung waren doch -- wenigstens nach gewöhnlicher Ansicht -- weit geringer
als jetzt. Nun überblicke ich, vom Jahre 1879 rückwärts gerechnet, einen mehr
als vierzigjährigen Zeitraum der kurhesstschen Rechtsprechung, und wenn dort
namhafte Fälle vorgekommen wären, wo eine Jrrsinnserklärnng Ärgernis er¬
regt hätte, so wären sie mir sicher nicht unbekannt geblieben. Es ist mir aber
kein einziger Fall erinnerlich. Ob im übrigen Deutschland solche Fälle vor¬
gekommen sind, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, erinnere mich aber auch



°") Dieser Aussatz ist uns noch kurz vor der Erkrankung des Verfassers zugegangen --
wohl das letzte, was er für die Öffentlichkeit geschrieben hat.
Grenzboten I 1895 S1


Noch ein Wort über Drrsinnserklärung
G. Bahr von

äst gleichzeitig mit dem Erscheinen des jüngst von mir in diesen
Blättern veröffentlichten Aufsatzes „Die Jrrsiunscrklärnng" sind
in Göttingen Männer von verschiednen Berufsarten und Parteien
versammelt gewesen, um über eine Reform des Jrrenwesens in
Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zu beraten. Sie
haben darüber eine Anzahl „Leitsätze" aufgestellt und durch die Presse ver¬
öffentlicht. Auf Wunsch der Redaktion dieser Blätter will ich diese Aufstellung
hier kurz besprechen.

Es bedarf wohl kaum der Versicherung, daß, wenn ich glaubte, daß wirk¬
lich auf dem Gebiete des Jrrenwesens, insbesondre in der Ordnung des Ent-
mündigungSverfahrens, so schwere Mißstände obwalteten, wie behauptet wird,
und daß es Mittel gäbe, diese Mißstände zu beseitigen, ich einer der ersten
sein würde, der dafür das Wort ergriffe.

Der Grund, weshalb ich an eine dringende Gefahr in dieser Beziehung
nicht glaube, liegt für mich zunächst in der Vergangenheit. In den Ländern
des gemeinen Rechts, und namentlich auch in Kurhessen, erfolgte bis zum
Jahre 1879 die Jrrsiunserklärung und Entmündigung nur durch die freiwillige
Gerichtsbarkeit. Ein Prozeßverfahren darüber, wie es jetzt gegeben ist, fand
nicht statt. Allerdings konnte gegen die durch die freiwillige Gerichtsbarkeit
getroffene Entscheidung bis in die höchste Instanz Beschwerde erhoben werden.
Aber die Bürgschaften gegen eine mißbräuchliche Anwendung der Jrrsiunserklä¬
rung waren doch — wenigstens nach gewöhnlicher Ansicht — weit geringer
als jetzt. Nun überblicke ich, vom Jahre 1879 rückwärts gerechnet, einen mehr
als vierzigjährigen Zeitraum der kurhesstschen Rechtsprechung, und wenn dort
namhafte Fälle vorgekommen wären, wo eine Jrrsinnserklärnng Ärgernis er¬
regt hätte, so wären sie mir sicher nicht unbekannt geblieben. Es ist mir aber
kein einziger Fall erinnerlich. Ob im übrigen Deutschland solche Fälle vor¬
gekommen sind, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, erinnere mich aber auch



°") Dieser Aussatz ist uns noch kurz vor der Erkrankung des Verfassers zugegangen —
wohl das letzte, was er für die Öffentlichkeit geschrieben hat.
Grenzboten I 1895 S1
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0411" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219413"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341861_219001/figures/grenzboten_341861_219001_219413_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Noch ein Wort über Drrsinnserklärung<lb/><note type="byline"> G. Bahr</note> von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1238"> äst gleichzeitig mit dem Erscheinen des jüngst von mir in diesen<lb/>
Blättern veröffentlichten Aufsatzes &#x201E;Die Jrrsiunscrklärnng" sind<lb/>
in Göttingen Männer von verschiednen Berufsarten und Parteien<lb/>
versammelt gewesen, um über eine Reform des Jrrenwesens in<lb/>
Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zu beraten. Sie<lb/>
haben darüber eine Anzahl &#x201E;Leitsätze" aufgestellt und durch die Presse ver¬<lb/>
öffentlicht. Auf Wunsch der Redaktion dieser Blätter will ich diese Aufstellung<lb/>
hier kurz besprechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1239"> Es bedarf wohl kaum der Versicherung, daß, wenn ich glaubte, daß wirk¬<lb/>
lich auf dem Gebiete des Jrrenwesens, insbesondre in der Ordnung des Ent-<lb/>
mündigungSverfahrens, so schwere Mißstände obwalteten, wie behauptet wird,<lb/>
und daß es Mittel gäbe, diese Mißstände zu beseitigen, ich einer der ersten<lb/>
sein würde, der dafür das Wort ergriffe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1240" next="#ID_1241"> Der Grund, weshalb ich an eine dringende Gefahr in dieser Beziehung<lb/>
nicht glaube, liegt für mich zunächst in der Vergangenheit. In den Ländern<lb/>
des gemeinen Rechts, und namentlich auch in Kurhessen, erfolgte bis zum<lb/>
Jahre 1879 die Jrrsiunserklärung und Entmündigung nur durch die freiwillige<lb/>
Gerichtsbarkeit. Ein Prozeßverfahren darüber, wie es jetzt gegeben ist, fand<lb/>
nicht statt. Allerdings konnte gegen die durch die freiwillige Gerichtsbarkeit<lb/>
getroffene Entscheidung bis in die höchste Instanz Beschwerde erhoben werden.<lb/>
Aber die Bürgschaften gegen eine mißbräuchliche Anwendung der Jrrsiunserklä¬<lb/>
rung waren doch &#x2014; wenigstens nach gewöhnlicher Ansicht &#x2014; weit geringer<lb/>
als jetzt. Nun überblicke ich, vom Jahre 1879 rückwärts gerechnet, einen mehr<lb/>
als vierzigjährigen Zeitraum der kurhesstschen Rechtsprechung, und wenn dort<lb/>
namhafte Fälle vorgekommen wären, wo eine Jrrsinnserklärnng Ärgernis er¬<lb/>
regt hätte, so wären sie mir sicher nicht unbekannt geblieben. Es ist mir aber<lb/>
kein einziger Fall erinnerlich. Ob im übrigen Deutschland solche Fälle vor¬<lb/>
gekommen sind, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, erinnere mich aber auch</p><lb/>
          <note xml:id="FID_43" place="foot"> °") Dieser Aussatz ist uns noch kurz vor der Erkrankung des Verfassers zugegangen &#x2014;<lb/>
wohl das letzte, was er für die Öffentlichkeit geschrieben hat.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1895 S1</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0411] [Abbildung] Noch ein Wort über Drrsinnserklärung G. Bahr von äst gleichzeitig mit dem Erscheinen des jüngst von mir in diesen Blättern veröffentlichten Aufsatzes „Die Jrrsiunscrklärnng" sind in Göttingen Männer von verschiednen Berufsarten und Parteien versammelt gewesen, um über eine Reform des Jrrenwesens in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zu beraten. Sie haben darüber eine Anzahl „Leitsätze" aufgestellt und durch die Presse ver¬ öffentlicht. Auf Wunsch der Redaktion dieser Blätter will ich diese Aufstellung hier kurz besprechen. Es bedarf wohl kaum der Versicherung, daß, wenn ich glaubte, daß wirk¬ lich auf dem Gebiete des Jrrenwesens, insbesondre in der Ordnung des Ent- mündigungSverfahrens, so schwere Mißstände obwalteten, wie behauptet wird, und daß es Mittel gäbe, diese Mißstände zu beseitigen, ich einer der ersten sein würde, der dafür das Wort ergriffe. Der Grund, weshalb ich an eine dringende Gefahr in dieser Beziehung nicht glaube, liegt für mich zunächst in der Vergangenheit. In den Ländern des gemeinen Rechts, und namentlich auch in Kurhessen, erfolgte bis zum Jahre 1879 die Jrrsiunserklärung und Entmündigung nur durch die freiwillige Gerichtsbarkeit. Ein Prozeßverfahren darüber, wie es jetzt gegeben ist, fand nicht statt. Allerdings konnte gegen die durch die freiwillige Gerichtsbarkeit getroffene Entscheidung bis in die höchste Instanz Beschwerde erhoben werden. Aber die Bürgschaften gegen eine mißbräuchliche Anwendung der Jrrsiunserklä¬ rung waren doch — wenigstens nach gewöhnlicher Ansicht — weit geringer als jetzt. Nun überblicke ich, vom Jahre 1879 rückwärts gerechnet, einen mehr als vierzigjährigen Zeitraum der kurhesstschen Rechtsprechung, und wenn dort namhafte Fälle vorgekommen wären, wo eine Jrrsinnserklärnng Ärgernis er¬ regt hätte, so wären sie mir sicher nicht unbekannt geblieben. Es ist mir aber kein einziger Fall erinnerlich. Ob im übrigen Deutschland solche Fälle vor¬ gekommen sind, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, erinnere mich aber auch °") Dieser Aussatz ist uns noch kurz vor der Erkrankung des Verfassers zugegangen — wohl das letzte, was er für die Öffentlichkeit geschrieben hat. Grenzboten I 1895 S1

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/411
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/411>, abgerufen am 28.04.2024.