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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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8Älus publio" entspricht. Schließlich aber giebt es noch eine Quelle, aus der
sich reiche Belehrung über diesen Gegenstand schöpfen läßt: das ist die Gattung
der Presse, die nicht dem Mammon ihr Dasein verdankt und ihm nicht dient,
die unter der Leitung wahrbeitsliebender und redlicher Männer ihre Spalten
allen denen öffnet, die erkennen, was dem Volke not thut, und es herbeizu¬
führen bestrebt sind. Was dort übereinstimmend ausgesprochen wird, kann
auch als öffentliche Meinung gelten, aber als eine von der rechten, echten
Art, auf die das Goethische Wort nicht paßt.




Neue stände

o oft in der Zeit, seitdem Fürst Bismarck Herzog von Lauen-
burg ist, in den Blättern, die zu der Reichsregierung Beziehungen
unterhalten, die Andeutung auftauchte, es würde eine Revision
der Reichsverfassung, namentlich eine Änderung des Neichstags-
wahlrechtes beabsichtigt, so oft bemächtigte sich auch stets des
deutschen Volkes eine sonderbare Erregung; sonderbar darum, weil sie mit
freudiger Zuversicht auf die guten Absichten der Regierung viel weniger Ähnlich¬
keit hat als mit unverhohlenem Grauen und Mißtrauen gegen das, was dem
deutschen Volke an Stelle des alten geschenkt werden soll. Wie tief dies Mi߬
trauen geht, kann man am besten daran ermessen, daß man einmal eine Zeit
lang die bereits wieder halb vergessenen Vorschläge Konstantin Nößlers hat
ernst nehmen können.

Dies Mißtrauen ist aber um so beschämender sür die Regierung, als der
Gedanke, das Reichstagswahlrecht und dadurch den Reichstag selbst zu ver¬
ändern und zu verbessern, an sich außerordentlich volkstümlich sein muß.
Denn daß der Reichstag nicht so ist, wie er sein sollte, daß er keine Vertretung
des Volkes mehr ist, daß er die Aufgaben, die ihm gestellt werden, nicht so
zu lösen sucht, daß vor allem das Wohl des Vaterlands gefördert wird, sondern
so, daß Partei- und Privatinteressen den Ausschlag geben, daß viele Mitglieder
des Reichstages ihren Pflichten in der nachlässigsten Weise nachkommen, sodaß
ihnen auch der hartnäckigste schwarzer sämtlicher Volksschulen des deutschen
Reiches noch als Musterknabe vorgestellt werden könnte, das ist doch die all¬
gemeine Überzeugung aller, die ihr deutsches Vaterland lieb haben. Aus dieser
Überzeugung aber ergiebt sich ganz von selbst der Wunsch, die vorhandnen


8Älus publio» entspricht. Schließlich aber giebt es noch eine Quelle, aus der
sich reiche Belehrung über diesen Gegenstand schöpfen läßt: das ist die Gattung
der Presse, die nicht dem Mammon ihr Dasein verdankt und ihm nicht dient,
die unter der Leitung wahrbeitsliebender und redlicher Männer ihre Spalten
allen denen öffnet, die erkennen, was dem Volke not thut, und es herbeizu¬
führen bestrebt sind. Was dort übereinstimmend ausgesprochen wird, kann
auch als öffentliche Meinung gelten, aber als eine von der rechten, echten
Art, auf die das Goethische Wort nicht paßt.




Neue stände

o oft in der Zeit, seitdem Fürst Bismarck Herzog von Lauen-
burg ist, in den Blättern, die zu der Reichsregierung Beziehungen
unterhalten, die Andeutung auftauchte, es würde eine Revision
der Reichsverfassung, namentlich eine Änderung des Neichstags-
wahlrechtes beabsichtigt, so oft bemächtigte sich auch stets des
deutschen Volkes eine sonderbare Erregung; sonderbar darum, weil sie mit
freudiger Zuversicht auf die guten Absichten der Regierung viel weniger Ähnlich¬
keit hat als mit unverhohlenem Grauen und Mißtrauen gegen das, was dem
deutschen Volke an Stelle des alten geschenkt werden soll. Wie tief dies Mi߬
trauen geht, kann man am besten daran ermessen, daß man einmal eine Zeit
lang die bereits wieder halb vergessenen Vorschläge Konstantin Nößlers hat
ernst nehmen können.

Dies Mißtrauen ist aber um so beschämender sür die Regierung, als der
Gedanke, das Reichstagswahlrecht und dadurch den Reichstag selbst zu ver¬
ändern und zu verbessern, an sich außerordentlich volkstümlich sein muß.
Denn daß der Reichstag nicht so ist, wie er sein sollte, daß er keine Vertretung
des Volkes mehr ist, daß er die Aufgaben, die ihm gestellt werden, nicht so
zu lösen sucht, daß vor allem das Wohl des Vaterlands gefördert wird, sondern
so, daß Partei- und Privatinteressen den Ausschlag geben, daß viele Mitglieder
des Reichstages ihren Pflichten in der nachlässigsten Weise nachkommen, sodaß
ihnen auch der hartnäckigste schwarzer sämtlicher Volksschulen des deutschen
Reiches noch als Musterknabe vorgestellt werden könnte, das ist doch die all¬
gemeine Überzeugung aller, die ihr deutsches Vaterland lieb haben. Aus dieser
Überzeugung aber ergiebt sich ganz von selbst der Wunsch, die vorhandnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/572>, abgerufen am 27.04.2024.